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Antonia Bertschinger – Bergünerstein II: Der Mord

Antonia Bertschinger – Bergünerstein II: Der Mord

Fährt man heute von Filisur nach Bergün, merkt man schon wegen der in teils eindrucksvolle Felsen gehauenen Straße, dass der Weg zu früheren Zeiten wohl kein Zuckerschlecken gewesen war. Tatsächlich kam man bis 1696 gar nicht überall den Fluss Albula entlang. Stattdessen musste man über den Rücken der zur Albula hin steil abfallenden Felsnase namens Bergünerstein hinauf, und auf der anderen Seite wieder hinunter. Jenem Bergünerstein, der dem Romanprojekt von Antonia Bertschinger den Namen gab. Die Geschichte des Straßenbaus auf dieser Passage, der später die bessere wirtschaftliche Nutzung des Albulapass erlaubte, bildet den Rahmen ihrer Romantrilogie. Der erste Band, „Der Krieg“, spielt vor dem Hintergrund des 1603 gescheiterten ersten Versuchs, den Fels begehbar zu machen. Nun geht der zweite Band, „Der Mord“, 60 Jahre weiter und die Gemeinde Bergün unternimmt den nächsten Versuch zum Straßenbau.

Antonia Bertschinger verbindet in ihrem dicken und opulenten Roman mehrere Schauplätze. Da sind freilich die Nachbardörfer Bergün und Latsch, kurz hinter dem Bergünerstein gelegen. Aber auch auf der anderen Seite des Albula-Passes, von Pontresina aus, greifen Figuren in das Geschehen ein. Das sind eine ganze Menge. Doch im Wesentlichen konzentriert sich das Buch auf die Schicksale dreier Frauen in diesen Schauplätzen: Die Stickerinnen Donna Leña und Susanna aus Bergün sowie Mengia aus Pontresina.

Es hat sich so wenig verändert …

Historische Romane sind in meiner Lesehistorie nur wenige zu finden. Was mich in diesem Fall aber neugierig machte, waren persönliche Berührungspunkte, wie der Albulapass selbst, oder das Engadin um Pontresina, also Schauplätze, die ich kannte. Und wärend des Lesens verblüffte mich die Aktualität. So sehr die Geschichte im 17. Jahrhundert platziert ist, mit Pferdetreks den Pass entlang, den elend abergläubischen Hexenjagden und mühsamer Wäsche- und Backtage, so „zeitgenössisch“ ist die Bündner Gesellschaft.

Nicht in dem Sinne, dass Antonia Bertschinger sie auf modern poliert hätte, um Sprache oder Verhalten gefälliger oder lesbarer zu machen. Im Gegenteil. Sie hat sich intensiv mit historischen Quellen befasst und mit dem Forschungsbereich Mentalitätsgeschichte, um ihre Figuren historisch so korrekt wie möglich zu schildern.

Liest man aber, wie unbarmherzig die Gesellschaft mit Frauen umgeht, wie männliche Vetternwirtschaft rund um wichtige Ämter an der Tagesordnung ist oder wie Menschen ständig Schuldige suchen wollen und ihnen wirklich kein Mittel zu dämlich ist, um andere einzuschüchtern, ist dieser Roman verdammt genau im Heute.

Fallstricke einer Gemeinschaft

Praktisch jede Frauengeschichte, die Bertschinger ausbreitet, ist eine Geschichte von Gewalt. Da werden Töchter ins Kloster gesteckt, damit keine Mitgift bezahlt werden muss und die Männer einer Familie mehr Erbe beim Tod der Eltern rausholen können. Die Ponteresinerin Mengia will der bösartige Vater nur an einen Bürger von Samedan verheiraten, der Aussicht auf Ämter hat. Inklusive Bestechung oder Stubenarrest für die Tochter sind ihm alle Mittel recht. Doch der von Ehrgeiz zerfressene Mann merkt nicht, dass er längst alles Ansehen verspielt hat.

Susanna wird nach einer Vergewaltigung zwangsverheiratet — an den Täter, der sie während der Ehe jahrelang misshandeln wird. Das Dorf weiß Bescheid, doch wichtiger als Schutz für sie und ihr Leben ist eben diese „Ehe“. Die gilt als wirtschaftliche Sicherheit, damit das Dorf nicht für sie und das Kind aufkommen muss. Dieses Geld wird höher gewichtet als jeglicher Schutz. Bei der Verheiratung kommen sich die Befürworter obendrein höchst gerecht und sittlich vor. Das „Victim Blaming“ wirkt später im Roman noch asozialer, wenn die Vergangenheit einer der beteiligten Personen Stück für Stück bekannter wird. Gleichzeitig versteht man, welche Ängste diese Person deswegen aussteht.

Aber auch Aberglaube und Hetze sind nicht aus der Welt zu bekommen und obgleich wir darum wissen, fallen eben immer wieder genug Menschen auf die Mechanismen herein. Antonia Bertschinger macht deutlich, worum es in Hexenprozessen hauptsächlich ging: missliebige Menschen loswerden. Im Fall des Romans gelingt demjenigen, der die Anschuldigungen anzettelt, noch dazu eine perfide Täterumkehr. Man hätte sie schnell durchschauen können, wenn man gewollt hätte.

Eine Geschichte, schroff wie der Bergünerstein

Oft passiert es mir, dass ich beim Lesen denke, „das ist alles ein bisschen viel“. So auch hier. Aber je länger der Roman sackt, umso klarer wird mir, dass all das problemlos in eine Handvoll kleiner Orte passt. Auch politische Wirren, die die Bevölkerung in unklaren Verhältnissen zurücklassen, tragen ihren Teil dazu bei.

Es gibt eine kleine Episode mit einem holländischen Maler, die sehr lustig anfängt und eigentlich eine herrliche Abwechslung sein könnte. Aber für den Mann endet sie fast lebensgefährlich, weil jene Wirren, Vorurteile, Aberglaube und Fremdenfeindlichkeit aufs tragischste vermischt werden.

Das Buch taucht tief in die Region ein und benutzt für das lebendige Setting auch die Sprachenvielfalt der Menschen aus den Regionen. Dazu gehören viele rätoromanische Begriffe, unter anderem für die Räume in den Häusern oder Verwandtschaftsbegriffe. Während bei den Personen ein Personenverzeichnis weiterhilft, erledigt das ein Glossar am Ende des Buchs für Vokabeln wie Suler, Bsatta, Fulaster oder Vscheñ.

Mit all diesen Elementen entsteht in diesem Buch nicht nur ein Stück Schweizer Geschichte, sondern auch ein gesellschaftliches Panorama jener Zeit. Die Albulastraße wird wenige Jahrzehnte später vollendet. Wie es dann den Frauen Mengia und Leña ergeht, wird ein dritter Romanband zeigen.

Zum Verlag • Die Edition Scumpigl veröffentlicht historische Fiktion aus und über Graubünden. Der Verlag versteht sich als Kulturprojekt und will Geschichte Graubündens erfahrbar machen: Wie lebten Bündner Männer und vor allem Frauen in früheren Jahrhunderten? Die Publikationen des Verlags basieren auf ausführlichen Archivrecherchen und historischer Forschungsliteratur.

Bibliografische Angaben

Verlag: Edition Scumpigl
ISBN: 978-3-033-09119-1
Erstveröffentlichung: 2023


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