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Pierre Magnan – Das Zimmer hinter dem Spiegel

Pierre Magnan – Das Zimmer hinter dem Spiegel

Pierre Magnan -Das Zimmer hinter dem SpiegelDrei Morde scheuchen das schläfrige Provencestädtchen Digne auf. Alles deutet darauf hin, dass die Opfer mit einer Steinschleuder getötet wurden. Man hat eine merkwürdig kleine Gestalt beim Steinesuchen an der Bléone gesehen. Kommissar Laviolette, dessen Phantasie vor nichts zurückschreckt, hat einen ungeheuerlichen Verdacht.

Rezension

In Digne findet die Müllabfuhr einen Toten während ihrer Frührunde vor sich auf der Straße. Der Tote gibt Rätsel auf, da man sich weder einen Grund für den Mord vorstellen kann, noch eine Ahnung hat, wie die Waffe ausgesehen haben könnte. Untersuchungsrichter Chabrand hält es für möglich, dass jemand einen Stein nach dem Opfer geworfen hat. Immerhin wurde in der Wunde Quarzsand gefunden, aber so fest werfen kann man eigentlich nicht. Kommissar Laviolette steht also über Wochen vor einem ungelösten Fall. Etwa ein halbes Jahr später kommt ein weiterer Mensch in Digne ums Leben. Als die Ermittler diesen Autounfall unter die Lupe nehmen, fällt ihnen ein Stein im Autowrack auf und die Theorie von Steinwurf bekommt neue Nahrung. Zwei ungelöste Fälle sorgen dafür, dass die Presse Digne in Beschlag nimmt und nach Kräften über die Lücken der Polizeiarbeit schreibt. Irgendwann wird es der Presse langweilig, sie zieht ab und erst ein dritter Mord bringt Laviolette und Chabrand langsam aber sicher auf die richtige Spur.

Laviolette ist ein ziemlich gemütlicher Typ. Genau wie Chabrand so lange strafversetzt, bis sie in der Provinz landeten, die beide jeweils als perfekten Ort für sich entdeckt haben. Sie können Ideen tauschen, ihr Tempo im Wesentlichen selbst bestimmen. Bei den ungeklärten Morden aber werden die Vorgesetzten unbequem. Chabrand und Laviolette droht erneut die Versetzung, denn man hat sehr wohl mitbekommen, dass sich die beiden gemütlich eingerichtet haben. Umso mehr als man herausfindet, dass Laviolette den Täter in einem ungewöhnlichen Personenkreis sucht. So viel unkonventionelles Denken ist nicht erfreulich. Und schade wäre es um das Gespann wahrlich, die sich schlagfertige Gefechte liefern und genau wissen, was sie am anderen haben:

– Und da Sie mir gerade so freundlich gesinnt sind, will ich Ihnen gleich mitteilen, dass ich großen Wert darauf legen würde, wenn Sie mich im Laufe der Ermittlungen an Ihren Irrungen und Wirrungen teilhaben ließen.
– Aber mit größtem Vergnügen, Euer Neugierden.
– Und dass Sie mir gegebenenfalls gestatten, meinen Senf dazu zu geben …

Wenn man Fred Vargas kennt, wirkt Kommissar Laviolette wie eine frühe Version des Kommissar Adamsberg mit seinen schrägen Assoziationen, den merkwürdigen Ermittlungsansätzen und der absoluten inneren Ruhe, obwohl die Ansätze kritisiert werden oder es irgend einem bedeutenden Vorgesetzten zu lange dauert – umgekehrt wird ein Magnan-Leser in Adamsberg eine Steigerung von Laviolette vorfinden. Laviolette erinnert mich in dieser Hinsicht immer wieder an seinen Pariser Kollegen. Seine letzten Ermittlungen führen ihn in ein seltsames Gefüge aus massiven Abhängigkeiten und der Unfähigkeit, sich auszudrücken. Obendrein birgt der seltsame Ort, an dem die Auflösung stattfindet, ungewöhnliche Überraschungen. Laviolette nimmt sich untypisch viel Zeit, verliert sein Ziel dennoch nicht aus den Augen. Wenn es sein muss, verschwindet er von der Bildfläche, um hinterher mit einer bestätigten Ahnung zurück zu kehren. Freilich einer, die sonst niemand auf dem Radar hatte.

Pierre Magnan stellt eine bunte Kollektion aus Charakteren zusammen, die alle in die leicht schräge Attitüde von Laviolette passen. Die alte Dame, die dem Mörder Briefe schreibt und hartnäckig ihre Eigenheit pflegt. Oder die diskrete Geliebte, offenbar die einzige Frau in Digne, deren Affären niemals bekannt werden und die lange nur ein rätselhaftes Vielleicht-Motiv liefert, weil eben niemand weiß, ob sie existiert und wer sie sein könnte. Die Seherin, die sehr wohl einen der Todesfälle „sieht“, ein Zeichen am Tatort wahrnimmt, aber darauf besteht, nicht zu wissen, was es ist und was es bedeutet. Nur einer wie Laviolette kann den Ausführungen der Frau halbwegs folgen.

So menschlich, wie Laviolette mit den Leuten in Digne umgeht, so menschlich beschreibt Magnan auch seine Figuren. Es ist schön geschrieben, bisweilen fast poetisch. Einfach ein passender Stil für einen Roman, der sich mit Ruhe so viel Zeit für die Entwicklung der Geschichte nimmt, wie es nötig ist.

Während die Printausgabe, die ich präsentiere, vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich ist, hat der Verlag Fischer 2015 sämtliche Fälle mit Kommissar Laviolette sowohl als Taschenbuch als auch als Ebook wieder herausgebracht. Wer Laviolette kennenlernen oder seine Lektüre vervollständigen möchte, sollte dort zugreifen.

Bibliografische Angaben

Verlag: Fischer
ISBN: 3-59616-550-4
Originaltitel: Le sang des Atrides
Erstveröffentlichung: 1977
Deutsche Erstveröffentlichung: 2000
Übersetzung: Irène Kuhn

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