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Sara Paretsky – Kritische Masse

Sara Paretsky – Kritische Masse

Sara Paretsky - Kritische Masse

Bei der Chirurgin Dr. Lotty Herschel klingelt das Telefon: „Dr. Lotty, ich bin’s, Judy, die sind hinter mir her, die wollen mich umbringen, du musst mir helfen!“ Die einzige Hilfe, die Lotty in dieser Situation einfällt, ist ihre Freundin V.I. Warshawski, Privatermittlerin mit zwei Hunden und wohl auch die einzige, die sich umgehend auf die komplizierte Suche nach einer drogenabhängigen Vierzigjährigen machen würde.

Warshawski findet zwar nicht die gesuchte Judy, dafür einen Toten, ein verlassenes Haus und eine halbtote Rottweiler-Hündin. Dazu noch mehr Rätsel: Judys Sohn Martin ist ebenfalls wie vom Erdboden verschwunden und Judys Mutter Kitty mauert und stänkert gegen ihre Tochter und Lotty nach Kräften.

Zu viele offene Fragen

Martin ist ein hochbegabter Programmierer und Physikenthusiast, der wegen der vehementen Gegenwehr seiner Mutter nie eine akademische Laufbahn eingeschlagen hat. Bei seinem Arbeitgeber Metargon sticht er trotz alledem mit seinem Wissen und seiner Auffassungsgabe heraus. Genau das macht die Chefs nun nervös. Obwohl Martin nur ein Teilgebiet der Programme kennt, hat er das Zeug, aus solchen Fragmenten auf die Gesamtstrukturen rückzuschließen und sie selbständig zu ergänzen. Der Chef vermutet, Martin könnte Kontakt mit fremden Anbietern aufgenommen haben, um sein Knowhow zu verkaufen. Er schaltet kurzerhand das FBI ein.

Kitty und Lotty wiederum kennen sich aus Kindertagen in Wien. Bei Kriegsbeginn wurden sie aus Wien nach London in Sicherheit gebracht und trafen sich Jahre später in Chicago wieder. Die gegenseitige Abneigung, die sie als Kinder schon füreinander hegten, haben sie all die Jahre über behalten.

Die Physik liegt in der Familie

Paretsky entschlüsselt Stück für Stück die Familiengeschichte der Familien von Lotty Herschel und Kitty Saginor. Teils macht sie das in Rückblicken, die sich zwischen den Jahren 1913 bis 1953 in Episoden durch das Buch ziehen. Teils macht sie das durch Geschichten, die Warshawski ihrer Freundin Lotty und anderen Beteiligten während den Ermittlungen aus der Nase ziehen muss. Dabei kommt heraus, dass Kittys Mutter Martina (und somit die Uroma von Martin) eine hochbegabte Physikerin war, die in Wien am Institut für Radiumforschung IRF gearbeitet hatte. Nach deren Deportation Anfang der 1940er Jahre verliert sich allerdings die Spur. Und doch hat Martina Saginors Geschichte vielleicht mit jenen Problemen zu tun, die V.I. Warshawski lösen muss.

In einem Nachwort schreibt Paretsky, dass eine reale Forscherin die Figur der Martina Saginor inspirierte: Marietta Blau. Blau war eine österreichische Physikerin, die mit ihrer Assistentin Hertha Wambacher (zumindest bis 1937) mehrfach für ihre Arbeiten vor allem über fotografische Nachweismethoden für Teilchen und die Untersuchung von Kernvorgängen ausgezeichnet wurde.

Ist der Forschungswert davon abhängig, wer forscht?

Hier steckt der Schlüssel dafür, warum dieser Krimi nicht nur als solcher spannend ist. Sara Paretsky hat die Geschichte ausgezeichnet recherchiert, ganz besonders jene der Frauen in der physikalischen Forschung. Hervorragende Forscherinnen gab es nämlich schon früh. Auch in der Physik. Das bereits genannte IRF hatte schnell kapiert, dass es es sich bei der Auswahl der Mitarbeitenden auf Frauen und Männer gleichermaßen verlassen konnte. Im Buch analysiert Warshawski mit einem Bibliotheksmitarbeiter eine alte Dokumentation über das Institut, das mit einem Frauenanteil von fast 40% damals revolutionär gut aufgestellt war. Das IRF war auf seinen Forschungsfeldern führend.

In der Personalführung allerdings nicht: Weil es nun mal Frauen waren, waren sie „freie“ Mitarbeiter, bekamen also kein Geld. Marietta Blau fragte zwar nach einer Bezahlung, bekam als Auskunft aber, dass sie gleichzeitig Frau und Jüdin war, und das sei „einfach zuviel“.

Wer als Frau sein Herz an die Physik verloren hatte, brauchte nicht nur zusätzliche Lohnberufe und Familien, die ihre Forschungen unterstützen, sondern auch kluge Familien, die trotz der Aufwendungen den Wert der Arbeiten anerkannten und sie nicht verboten. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 musste das IRF alle Frauen und alle jüdischen Mitarbeiter feuern.

„Vielleicht war sie ja eine große Wissenschaftlerin mit einem Genderproblem?“

Diese Frage stellt Warshawski der Nachfahrin des fiktiven Nobelpreisträgers Benjamin Dzornen, den Paretsky für ihren Roman erfunden hat (möglich macht das eine Lücke im Jahr 1934, in dem kein Nobelpreis für Physik verliehen wurde). Dieser Dzornen arbeitete intensiv mit Martina Saginor zusammen. Bis heute hält sich über Dzornen das Bild vom brillanten Mann und Wissenschaftler, dem kaum jemand das Wasser reichen konnte und eine Frau, „die Tochter einer Näherin“, schon gar nicht.

Nochmals zu Marietta Blau: SIe wurde insgesamt fünf Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen. Für Marie Curie musste seinerzeit schon der Ehemann in die Bresche springen, damit sie den Preis mit ihm zusammen bekam. Für Blau hatte unter anderem kein geringerer als Erwin Schrödinger sein Gewicht in die Waagschale geworfen. Gleichwohl, sie selbst hat ihn nie erhalten. Blaus Forschungsgebiet allerdings war tatsächlich einen Nobelpreis wert; den kassierte ein Mann und die Arbeiten von Wambacher und Blau kehrten sowohl der Laureat als auch die Jury unter den Tisch.

Marietta Blau kehrte 1960 nach Wien zurück ans Radiuminstitut; Geld bekam sie für ihre Forschungen laut Lexikoneintrag wieder keines. 1970 starb sie an Krebs: „In keiner wissenschaftlichen Zeitschrift erschien ein Nachruf.“

Forschungsergebnisse verändern sich schnell, die Klischees bleiben

Mit der Veröffentlichung der Übersetzung von „Critical Mass“ hätte der Verlag keinen besseren Zeitpunkt erwischen können: Kurz nach Bekanntgabe der Laureaten des Physik-Nobelpreises für das Jahr 2018. Unter den Laureaten war die kanadische Physik-Professorin Donna Strickland, die für ihre „bahnbrechenden Erfindungen im Bereich der Laserphysik“ ausgezeichnet wurde.

Umgehend geriet eine wüste Anekdote über Wikipedia in Umlauf. Dort sollte Strickland schon vor geraumer Zeit einen eigenen Eintrag erhalten, der allerdings abgewehrt wurde: Für einen eigenen Artikel in der Wikipedia sei die Physikerin nicht qualifiziert. Da möchte man sich am besten in Zynismus flüchten: Immerhin, die finanzielle Situation der Forscherinnen hat sich gebessert. Sicher müssen sie einen Genderpaygap verkraften, aber hey, sie werden inzwischen bezahlt!

Strickland ist gerade mal die dritte Frau, der die Ehre eines Nobelpreises in Physik zuteil wurde. Vielleicht hätte sie die vierte sein können, hätte man zum Beispiel Marietta Blau berücksichtigt.

Nach der Lektüre von Sara Paretskys dickem Krimi weiß man zweierlei: Erstens, es lohnt sich jede einzelne Seite. Zweitens: Wir wissen inwzischen wahnsinnig viel über Atomaufbau, Fermi-Flächen, Schwarze Löcher und eben Laserstrahlung, aber wir haben immer noch nicht verstanden, wie man Anerkennung für eine Leistung zollt, schon gar nicht in der universitären Forschung.

Bibliografische Angaben

Verlag: Ariadne bei Argument Verlag
ISBN: 978-3-86754-236-4
Originaltitel: Critical Mass
Erstveröffentlichung: 2013
Deutsche Erstveröffentlichung: 2018
Übersetzung: Laudan & Szelinski

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