Fünf Wochen nach dem Verschwinden von Barbara Wallace kontaktiert Sir Graham Forbes den Schriftsteller Paul Temple und bittet um Mithilfe. Während Wallaces Verschwinden noch keine besondere Nervosität bei der Polizei auslöste, wird es nun kritisch. Gerade ist auch Mildred Dawson verschwunden und in beiden Fällen tauchte nach dem Verschwinden eine geheimnisvolle Grußbotschaft von einem gewissen Mr. Gregory auf. Zufällig hatten beide offensichtlich auch Kontakt zu demselben Arzt, obwohl sie aus unterschiedlichen Orten stammten. Da steckt Methode dahinter und das Ehepaar Temple greift ein. Sie machen sich auf den Weg nach Seabourne, um an dem Ort nachzuforschen, an dem die tote Wallace vor wenigen Tagen aufgefunden wurde.
„So fangen die Paul Temple-Hörspiele immer an. Irgendwo wird zufällig eine kaputte Frauenleiche gefunden und los geht die wilde Fahrt.“
Der Fall Gregory bietet alles, was einen Paul Temple ausmacht: Unzählige Verdächtige, mehrere Tote, verängstigte Zeuginnen, verschiedene Möglichkeiten, wer wen kennt oder nicht kennt, wer welche Vergangenheit verschweigt, Cliffhanger, seltsame Telefonanrufe, Schwindeleien, geheimnisvolle Botschaften und am Ende ist der große Bösewicht niemals eine Frau. Eine rasante und oft verwirrende Story, bei der man gut zuhören muss oder sich gar nebenher Notizen machen sollte, will man Paul Temple halbwegs gut durch das Indizien- und Verdächtigengewirr folgen.
Rekonstruktion eines Straßenfegers
Francis Durbridge schrieb in der Frühzeit des Fernsehens die besten Radio-Krimiserien und Paul Temples zahlreiche Fälle genießen nach wie vor Kultstatus. Hierzulande sind einige Temple-Serien aus den Jahren 1951 bis 1967 erhalten geblieben. Doch der erste Fall, „Paul Temple und die Affäre Gregory“, ist nach seiner deutschen Ursendung im Jahr 1949 aus den Rundfunkarchiven verschwunden.
Die Rekonstruktion des Falls ist eine Geschichte voller Zufälle. Nicht nur die deutsche Fassung ging verloren. Vermutlich wurde das teure Aufnahmematerial für eine andere Produktion überspielt. Auch das englische Original gilt als verschollen. Der zugrundeliegende Text blieb gleichfalls über Jahrzehnte verschwunden. Und als er endlich auftauchte, fehlten einige Seiten. Bei der Rekonstruktion half eine erhaltene Aufnahme aus Norwegen, aus der man sogar eine kurze Passage hören kann.
Wie macht man aus einem jahrzehntealten Script nun etwas Besonderes? Nein, die Handlung wird keineswegs verändert oder modernisiert. Es bleibt, wie es sich gehört, bei exakt dem Text, den Durbrige schrieb. Auch die Musikauswahl folgt dem Original von Hans Jönsson. Leonhard Koppelmann und Bastian Pastewka haben dem Stück statt dessen eine Rahmenhandlung verpasst. Der Temple-Fan Pastewka kommentiert die Passagen („… der Fall Spencer, da gibt es dieselbe Szene! …“) und füttert den Hörer begeistert mit Fakten aller Art. Wie viele Hörspiele es zum Beispiel gab und wer die Rollen sprach.
Überhaupt die Rollen! Früher war die Besetzungsliste ein Who is Who der namhaften deutschen Schauspieler und jede Rolle bekam einen eigenen Sprecher. Heute ist das etwas anders, wie man mit einem Augenzwinkern erfährt. Neben Bastian Pastewka in der Rolle des Paul Temple gibt es „vier Topschauspieler, die alles sprechen, weil der Sender nicht mehr so viel Geld hat.“ Die Verlesung der Rollenliste und ihrer Sprecher am Ende fällt daher mindestens ebenso humorvoll aus wie das Hörspiel an sich. Man zähle zum Beispiel einfach mal mit, wie viele Searganten Inga Busch zu sprechen hatte.
Ein lässiger Tanz der Hörspiel-Generationen
Die Wahl der Stimmen ist gelungen und die Sprecher treffen die Originalstimmen ziemlich gut (was Pastewka immer wieder lobend erwähnt): „Alexis, dein Charlie ist wunderbar. Du klingst genau wie damals Herbert Hennies in den klassischen Temple-Hörspielen ab 1951.“ Auch Kai Magnus Sting wird bescheinigt, dass der Originalsprecher Kurt Lieck gewiss stolz auf seinen Nachfolger wäre. Janina Sachau klingt wie Steve und „singt“ den typischen Singsang von Annemarie Cordes (etwas stärker als das Original). Sie macht Pastewka eine ganz besondere Freude, als sie in einer Aufnahmepause nachfragt:
„Du, Bastian, was ich nicht begreife …“
„Janina, du bist die perfekte Steve! ‚Also, was ich nicht begreife, ist‘ ist in jedem Hörspiel, das ist IHR Satz, weil sie nie etwas begreift.“
Im Vergleich zu den Originalaufnahmen ist die Neuaufnahme gekürzt. Pastewka erwähnte in einem Interview, die zehn Folgen mit fünfeinhalb Stunden Spielzeit in eine „knappe, spannende Form“ gebracht zu haben. Wie viel Handlung herausgefallen ist, lässt sich daraus allerdings nicht ablesen. Im Original waren längere Musikstücke untergebracht. Jede Folge begann mit der Wiederholung von Szenen der vorigen Woche, worauf die Neufassung verzichtet. Der fehlende Text im Originalmanuskript wird konsequenterweise nicht rekonstruiert, sondern auf Basis der norwegischen Fassung kurz und bündig in wenigen Sätzen nacherzählt.
Mag auch die eine oder andere Passage der Schere zum Opfer gefallen sein, dem neuen Temple fehlt es auf Grund der bewusst gewählten akustischen Nähe zum Original an nichts. Im Gegenteil. Pastewka hat der nonchalanten Ausstrahlung des Klassikers eine lässige Ergänzung in Gestalt der Rahmenhandlung verpasst. Dank der Auswahl der Stimmen und der Musik ist das Original präsent. Die Geschichte ist mit verschiedensten Fährten gespickt, die für ausreichend Verwirrung und Spannung sorgen. Und weil es nun mal ein Temple-Hörspiel ist, sendete den neuen Fall Gregory im November 2014 der Radiosender WDR. Also der Sender, der seit 1949 mit zwei Ausnahmen die Originalfälle von Paul Temple gesendet hatte. Ein Konzept aus einem Guss.

Bibliografische Angaben
Verlag: Der Hörverlag
ISBN: 978-3-84451-718-7
Originaltitel: Paul Temple and the Gregory Affair
Erstveröffentlichung: 1946
Deutsche Erstveröffentlichung: 1949
gesprochen von Bastian Pastewka, Inga Busch, Janina Sachau, Alexis Kara und Kai Magnus Sting
