Als Kankos Großmutter stirbt, macht sich die 17-jährige Schülerin mit ihren Eltern auf den Weg zur Beerdigung. Der Rest der Familie reist anders an. Übernachtet wird wie früher direkt im Auto – das spart Kosten, man kann fast überall stehen bleiben. Und außerdem möchte die Mutter allein aus nostalgischen Gründen die Reise absolvieren wie früher, als die Familie mit allen drei Kindern auf diese Weise Ausflüge und Ferien gemacht hat. Denn seit ihrem Schlaganfall bringt sie zwar aktuelle Dinge durcheinander, erinnert sich dafür aber umso besser an die Vergangenheit.
Rin Usami erzählt anhand jener Reise die Familiengeschichte. So kommt heraus, dass Kanko kaum noch ihren Schulalltag bewältigen kann. Sie schläft ein oder steht plötzlich orientierungslos im Schulflur. Bei ihr wurden Depressionen diagnostiziert und seit mehreren Monaten wird sie von Therapeuten betreut. Doch schnell ist klar, dass Kankos Depressionen handfeste Gründe haben.
Verantwortung für die Eltern?
Die Brüder, so stellt sich heraus, haben sich nicht umsonst aus dem Staub gemacht; der ältere lebt mit seiner Frau ein ganzes Stück weiter weg, der jüngere ist zu den Großeltern gezogen und hat sich selbst eine andere Schule gesucht. Denn die Mutter leidet nicht nur an den Folgen eines Schlaganfalls. Sie trinkt seit langem zuviel Alkohol. Der Vater ist gewalttätig, schreit, beleidigt und prügelt auf seine Familienmitglieder ein. Von den Kindern lebt daher nur noch Kanko daheim – umso mehr mit dem Gefühl, sich um ihre Eltern kümmern zu müssen. Selbstverständlich steht sie vor einer unlösbaren Aufgabe, die sie heillos überfordert.
Die Geschichte von Kanko und ihrer Familie mischt Rin Usami mit kleinen Rückblenden, die verdeutlichen, wie sehr die Familie unter der Gewalt des Vaters leidet. Während die Brüder die Kraft hatten, sich zu lösen, fehlt Kanko die nötige Energie. Vielleicht fehlt ihr auch die Einsicht, dass sie keine Chance hat und dass ihr eigenes Wohl vor die Hunde geht.
Leben heißt nur, dass man nicht gestorben ist. Jeder vergisst die Hölle von gestern, um in der Hölle von heute weiterzumachen.
Usami vermittelt eindruckvoll die Zerrissenheit, die Kanko die Abnabelung so ungeheuer schwer macht. Der Vater, der für Außenstehende so klar ein „Monster“ ist, ist für sie eben „Vater“ — und damit weitaus mehr als ein Mann, der ihr während seiner Wutausbrüche gegen den Körper tritt. Nicht zuletzt macht sie sich für die Szenen zuhause mitverantwortlich. Selbst dann, wenn die Polizei von den Nachbarn gerufen wird, kann sie die Situation nicht so in Worte fassen, dass ihr Hilfe zuteil wird.
Aushalten – um jeden Preis

„Kankos Reise“ zeigt aber auch, dass sich die Muster wiederholen können. Auch im Haus des Vaters gab es häusliche Gewalt. So viel, dass die Großmutter sich abgesetzt hatte und erst nach dem Tod ihres Mannes wieder zurückkehrte. Bei Kanko zuhause redet man sich diese Familiengeschichte schön: Die Großmutter wird als Wildfang porträtiert, der die Misere überhaupt erst ausgelöst hat. Es ist eine kleine Episode nur, aber eine, die eine hartnäckige Haltung in der Gesellschaft repräsentiert: Unterschwellig wird das stille Ertragen der Frauen erwartet, während männliche Gewalt kleingeredet wird. (Eine ähnliche Situation löst auch bei „Das Dorf der acht Gräber“ eine gewisse Wut beim Lesen aus.)
Es kann also einer der weiteren Aspekte sein, der Kanko zu Hause hält. Die Brüder haben durch die subtile Familienerzählung nie auch nur einen Hauch von Verantwortung für Vaters Ausraster vermittelt bekommen. Dennoch: Einen kleine Hoffnungsschimmer wird es für Kanko am Ende geben. Die Reise bringt sie auf eine Idee, wie sie nahe am eigenen Zuhause bleiben kann und gleichzeitig abgekapselt zu sein.
Bibliografische Angaben
Verlag: Kiepenheuer und Witsch
ISBN: 978-3-462-31229-4
Originaltitel: Kuruma no musume (車の娘)
Erstveröffentlichung: 2022
Deutsche Erstausgabe: 2025
Übersetzung: Luise Steggewentz