„Der Mensch ist das einzige Tier, das sich durch künstliche Befruchtung fortpflanzt.“ Mit diesem zentralen Satz lernt die junge Amane in einem Schulbuch die moderne Sexualität kennen. In irgendeiner Zukunft haben sich die Themen Verlieben und Sex total erledigt, und wer gelegentlich noch Reste solch alter Paarungstraditionen verspürt, für den erfüllen Zeichentrickfiguren oder ähnliche Charaktere denselben Zweck.
„Du bist meine einzige Familie auf der Welt. Und der einzige Mensch, in den ich mich nie verlieben werde.“
„Wir sind Mann und Frau, da ist das doch selbstverständlich.“
Amane möchte das künftig gerne alles richtig machen, denn zu ihrem Entsetzen stellt sie fest, dass ihre eigenen Eltern gegen sämliche Regeln den früher üblichen Geschlechtsverkehr hatten – was prompt die Runde im Lehrerzimmer macht und große Besorgnis auslöst. Amane stolpert durch eine verwirrende Gefühlswelt, merkwürdige Begegnungen und zieht schließlich mit ihrem Mann nach Chiba. Dort gibt es eine experimentelle Stadt, in der sich jeder und jede um die Kinder kümmert, niemand einen eigenen Partner hat und auch Männer Kinder gebären können.
Irritierend bis ratlos
Ein Murata-Roman nach „Zeremonie des Lebens“ sollte mich insofern nicht mehr überraschen, da die Autorin erneut unsere Gepflogenheiten auf den Kopf stellt, ein Gegenteil formt und aufbaut, es kompromisslos zu Ende führt und oft genug ins Groteske dreht. Es entsteht weniger ein Roman, als vielmehr ein Konzept über den gesellschaftlichen Wertekanon, mit dem sie herumprobiert. In diesem Fall die Idee einer beziehungslosen Gesellschaft, in der bereits mit „Carearbeit für alle“ experimentiert wird.
Bei den Kurzgeschichten aus „Zeremonie des Lebens“ funktionierte die Idee gut. In der Kürze ließen sich irritierende Ideen aufbauen und als Denkanstoß präsentieren. Als Roman aber? An Abbruch habe ich mehrfach gedacht, weil der Großteil zu Beginn sehr repetitiv ist. Muraka verwendet viel, viel Zeit darauf, die Liebe zwischen zwei Menschen als veraltet und (innerhalb der Ehe) sogar als kriminell darzustellen. Reste von Romantik gibt es noch, dürfen aber auf keinen Fall zwischen Eheleuten ausgetauscht werden.
Murata wertet ihre Ideen niemals. Schlussendlich sind alle Wendungen plausible Konsequenzen jener Entscheidungen, die zu dieser dystopischen Welt geführt haben und die auf dem Weg dorthin als fortschrittlich gepriesen wurden. Was unsere zeitgenössischen Zustände, wie Sexismus und Entfremdung, klar als lösbar dokumentiert; immerhin haben menschliche Entscheidungen bewusst dorthin geführt.

Aber Lösungen gibt so ein Konzeptroman natürlich keine an die Hand, will man Änderungen herbeiführen. Letztlich müssen Leserinnen und Leser für sich selbst identifizieren, wo sie Weichen neu gestellt sehen möchten. Doch ob das bei Männern und Frauen dieselben Weichen sind, wage ich zu bezweifeln. Amane formuliert in einer Szene richtig, dass ihre früheren „Instinkte“ für den Rest der Welt einfach auch wahnsinnig bequem waren. Wie also geht es weiter, wenn wir so wie heute nicht mehr können und wollen?
Bibliografische Daten
Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-04244-8
Originaltitel: Shōmetsu sekai (消滅世界)
Erstveröffentlichung: 2015
Deutsche Erstveröffentlichung: 2025
Übersetzung: Ursula Gräfe
