Sayaka Murata – Zeremonie des Lebens

von Bettina Schnerr
2 Minuten Lesezeit
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Wie sieht unser Leben aus, wenn die Konventionen ganz anders definiert wären als es heute der Fall ist? Sayaka Murata lotet diese Ideen auf mehrere Kurzgeschichten verteilt in „Zeremonie des Lebens“ aus. Was bedeutet „andere Konventionen“ bei Murata? Das bedeutet, dass die Japanerin Moralvorstellungen auf den Kopf stellt. Sie dreht das gesittete Miteinander durch den Fleischwolf und macht aus Liebe, Essen oder Wertschätzung Häckselgut. Alles, was wir heute als Standard im Umgang miteinander empfinden. Und – das sei vorweg gesagt — dafür braucht es Nerven.

Die Verstorbenen zu recyclen, zeichnet uns als höhere Wesen aus.

Manchmal hört man ja, man solle eine Idee „zu Ende denken“. So schließen wir Konzepte ab oder denken einen Umzug durch. Und haben dann sozusagen alles für einen reibungslosen Ablauf berücksichtigt. Sayaka Murata tut das auch, biegt in der Regel jedoch in eine obskure Richtung ab. Wenn sie Ideen auf eine solche Art zu Ende denkt, kann es ungemütlich werden.

Wer von Sayaka Murata bereits Texte kennt, ist ein wenig vorbereitet auf das, was in „Zeremonie des Lebens“ auf Leserinnen und Leser zukommt. Und doch sei gewarnt, dass sie noch einen drauflegt.

Mehr als nur „schräg“

Will Murata also die reglementierte japanische Arbeitswelt aufs Korn nehmen, in der die Büroarbeitszeiten oft bis in die Nacht reichen, pickt sie zum Beispiel einen Angestellten aus Otemachi heraus, einem typisches Büroviertel mit zahllosen Menschen in Anzug und Business-Kostüm. Bei Murata wird der Angestellte zu einem Haustier – wortwörtlich –, der praktisch nur einen Satz von sich geben kann: „Arbeite das bis morgen nach.“ Wahrscheinlich die letzten Worte, die er gehört hatte, bevor er, irr geworden vor Arbeit, aus dem Büro floh und nun in einer Hundehütte vor sich hin vegetiert.

Übertreibung war bereits in „Die Ladenhüterin“ und „Das Seidenraupenzimmer“ ein Markenzeichen der Japanerin. Immer mit der Idee, durch Provokation zu hinterfragen. Aber nicht unbedingt mit der Idee, das Bestehende tatsächlich durch die Vision zu ersetzen, sondern vielmehr auf die Fallstricke in unseren Konventionen zu zeigen. Murata spricht nicht nur deutlich über existierende Probleme (wie die Geringschätzung von Frauen, ihrer Lebensorganisation oder Arbeit), sondern auch über Risiken. Manchmal sind wir von üblen Visionen, die wir — weil sie doch im Roman auftauchen — als Fiktion abtun, gar nicht so weit entfernt.

Sayaka Murata - Zeremonie des Lebens

Spotlight auf die Abgründe

Was macht uns also als Menschen aus? Das ist vielleicht nicht immer leicht zu formulieren. Doch was uns gerade NICHT ausmacht oder ausmachen sollte, ist weitaus wichtiger und fast immer leichter zu fassen. Manch eine Geschichte schockt daher mit Ekel oder zieht eine richtiggehend abstoßende Grundidee auf. Abgründig denken, um etwas Wahres über die Realität zu erzählen, heißt das richtigerweise im Klappentext.

Alle reden von gesundem Menschenverstand, Instinkt, Ethik und all diesen Dingen, als wären sie in Stein gemeißelt. Aber in Wahrheit verändern sie sich ständig und das nicht erst seit gestern, wie du zu glauben scheinst. Die Welt ist seit ewigen Zeiten im Wandel.

Die Kurzgeschichten zeigen, dass dieser Wandel nicht einfach passiert, sondern Mitdenken, Mitgestaltung und Mitarbeit erfordert. Damit die Probleme sichtbar werden und behoben werden können und die Dystopien tatsächlich im Reich der Fiktion bleiben.

Bibliografische Angaben

Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-05109-9
Originaltitel: Seimeishiki (生命式)
Erstveröffentlichung: 2019
Deutsche Erstveröffentlichung: 2022
Übersetzung: Ursula Gräfe

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