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Sayaka Murata – Das Seidenraupenzimmer

Sayaka Murata – Das Seidenraupenzimmer

Sayaka Murata - Das Seidenraupenzimmer

Alljährlich trifft sich die Großfamilie Sasamoto im abgelegenen Bergdorf Akishina bei den Großeltern, um dort das Ahnenfest Obon zu feiern. Die kleine Natsuki freut sich jedes Jahr auf ihren Cousin Yu, den sie über das Jahr hinweg sonst nicht sieht. Die beiden Kinder sind überzeugt, Außerirdische mit magischen Fähigkeiten zu sein. Als sie in einem Jahr deswegen allerdings auf die Idee kommen zu „heiraten“, eskaliert die Situation und die Familie spaltet sich. Murata erzählt die Geschichte von Natsuki weiter, während Yu für mehr als zwanzig Jahre in der Versenkung verschwinden wird.

Natsuki lebt nicht erst seit diesem Skandal in einer Familie mit großen Beziehungsproblemen. Mutter und Schwester Kise piesacken und demütigen Natsuki fortwährend. Als Natsuki von einem Lehrer sexuell missbraucht wird, findet sie also weder die Kraft, sich zu wehren noch Hilfe und Gehör. Das Erlebte wird ihre Wahrnehmung für Jahrzehnte prägen. Natsukis einzige Stütze ist ihre Selbstwahrnehmung als Außerirdische, die sich noch verstärkt. Dahinter versteckt sie sich vor der Außenwelt, die „Fabrik“, die die junge Frau in die klassische Rolle einer Ehefrau drängen will.

Grausame Gesellschaft, grausamer Roman

In „Das Seidenraupenzimmer“ geht Sayaka Murata in ihrer Gesellschaftskritik ein großes Stück weiter als im Vorgänger „Die Ladenhüterin„. In einer Gesellschaft, in der „nicht rollenkonform funktionierende“ Menschen geächtet werden und keinen Platz haben, bleiben nicht viele Auswege: Hikikomori (wie Natsukis späterer Ehemann) zum Beispiel oder eben „Außerirdische“. Die gehässige Kise repräsentiert in ihrer Niederträchtigkeit jene Leute, die auf Menschen wie Natsuki herabsehen, sie reglementieren wollen. Kise selbst beschreibt die der Frau zugedachte Rolle so:

Aber dann habe ich meinen Mann kennengelernt, und zum ersten Mal habe ich einen Wert. Es ist das Glück einer Frau, wenn ein Mann sie findet, und ich hatte das Glück, dass mein Mann mich entdeckt hat.

Doch seit der Begegnung mit dem Lehrer kann Natsuki kaum noch auf andere Menschen zugehen. Auch, dass sie keine Hilfe in ihrer Situation bekommt, ist symptomatisch (und an dieser Stelle nicht auf Japan beschränkt): Dass ein gut aussehender junger Mann sich an einem Mädchen vergreift, kann schließlich unmöglich sein. In der Wahrnehmung jener Menschen, denen sich Natsuki anvertrauen will, tun so etwas nur unattraktive und alte Männer, sie erzähle Kinderphantasien und sei für so einen tollen Typ ohnehin keine ernsthafte Wahl.

Kein romantisches Seidenraupenzimmer

Beide Romane, „Das Seidenraupenzimmer“ und „Die Ladenhüterin“, werden von der Wahl einer sehr speziellen Symbolik getragen und da legt Murata in diesem Buch noch eine Schippe drauf. Die Außenseiter bei Murata rächen sich auf aufwühlende Weise an ihrer Umwelt mit Mord und Kannibalismus. Da sollte man sich vom phantasievollen Cover nicht täuschen lassen. Die Handlung erinnert mich in ihrer Härte streckenweise an Audition und was in der Buchmitte noch verträglich war, ufert gegen Ende des Buches aus.

Trotzdem fasziniert das Buch in seiner konsequent harten Gangart. Die Erzählung baut sich innerhalb des eigenartigen Rahmens folgerichtig auf und bringt nach über zwanzig Jahren drei Außenseiter im alten und inzwischen verlassenen Farmhaus in Akishina wieder zusammen. Das Ende wählt Sayaka Murata offen. Wohl mit einer prosaischen Vorahnung für den Leser, doch voller Möglichkeiten für die drei Hausbewohner.

Link: „Deutlich schwerere Kost“ urteilt auch Japanliteratur.

Bibliografische Angaben

Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-03793-2
Originaltitel: Chikyu Seijin / 地球星人
Erstveröffentlichung: 2018
Deutsche Erstveröffentlichung: 2020
Übersetzung: Ursula Gräfe

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