Wolfgang Schorlau – Die blaue Liste

von Bettina Schnerr
3 Minuten Lesezeit
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Nach vielen erfolgreichen Jahren als Fahnder beim BKA schied Georg Dengler aus dem Dienst aus und macht sich dank seiner beruflichen Erfahrungen als Privatermittler selbständig. Ein harziger Einstieg, denn das letzte Gehalt des BKA landet einfach nicht auf dem Konto und die ersten Aufträge müssen erst einmal abgeschlossen werden. Wie zu erwarten finden sich zuerst Menschen bei Dengler ein, die den Partner prüfen lassen möchten oder Arbeitgeber, die ihren Angestellten misstrauen.

Den Anruf eines Mannes, der seiner Lebensgefährtin Christiane helfen will, den Tod ihres Vaters emotional abzuschließen, kommt Dengler gleichfalls wie ein Spaziergang vor. Der Vater, Paul Stein, war vor zwölf Jahren auf einen Flug eingebucht, der mit einem Absturz im Dschungel endete. Wie aber kann ein Absturzopfer nach Abflug der Maschine noch bei der Tochter anrufen und behaupten, er habe den Flieger verpasse? Dengler lässt sich die Unterlagen kommen und stellt schnell einige seltsame Details fest, darunter die Tatsache, dass das deutsche BKA in ungewöhnlicher Gruppenstärke die Ermittlungen beim Absturz einer österreichischen Maschine leitete.

Ein Privatermittler im deutschen Krimi?

Das funktioniert nie! So jedenfalls bescheinigte man Schorlau die Aussichten für diesen ersten Fall. Ein Glück, dass Schorlau sich nicht für diese Rückmeldung interessierte. Aber die Vorbehalte lässt er in einem Gespräch zwischen dem erfolglosen Krimi-Schriftsteller Martin Klein und Dengler Revue passieren:

„In Deutschland muss die Bekämpfung des Bösen immer hoheitlicher Akt sein, die Suche nach der Wahrheit darf nie Sache des mündigen Bürgers werden, nur ein Staatsbeamter findet die Wahrheit und schafft damit Ordnung. …“

Doch damit nicht genug. Klein fördert noch einen ganz anderen Mangel des deutschen Krimis zutage:

„Das Böse kommt bei uns immer von außen. Es ist undenkbar, dass es mitten unter uns sitzt, dass der Staat es selbst ist, der Verbrechen ausführt; selbst die kleine Spielart, der korrupte Bulle, kommt nicht vor — in keinem Tatort, in keinem der SAT-1-Filmchen, nur in der Wirklichkeit, na, das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich.“

Und ob Dengler das besser weiß; so ganz ohne Bauchschmerzen ging seine Kündigung beim BKA nämlich nicht ab und der Hinweis auf die starke BKA-Beteiligung bei den Ermittlungen zum Flugzeugabsturz löst, kein Wunder, Misstrauen aus. Dengler begegnete selbsternannten Gerechten, unter der Aufgabe zu ungesunden Moralaposteln mutiert. „Es gibt keine Justizirrtümer in Terroristenprozessen,“ lässt ihn ein eher machtheischender denn kompetenter Chef wissen, der eine ganze Generation als schuldig, unrettbar, verfaulend deklariert. Einfach weil sie Altersgenossen der RAF-Gruppierungen waren. „Jeder unter 35 sollte mindestens drei Mal spüren, wie das ist, wenn eine Maschinenpistole auf ihn gerichtet wird.“

Aufarbeitung eines Terrorakts

Die RAF bildet den einen Erzählstrang der Geschichte. Die womöglich letzte Tat einer zugehörigen Gruppierung war die Ermordung des Präsidenten der Treuhandgesellschaft Detlev Karsten Rohwedder im April 1991. Wer tatsächlich dahinter steckt, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Wolfgang Schorlau bleibt an den gut recherchierten Fakten. So lange sie eindeutig sind jedenfalls. Denn die Täterschaft lässt Optionen für ihn offen.

Die immer noch bestehende Theorie, dass es eine gut getarnte Geheimdienstaktion war, verknüpft er mit dem Flugzeugabsturz einer Lauda-Air-Maschine im Mai 1991. An Bord war in der Tat ein bedeutender österreichischer Volkswissenschaftler, der viele Männer der deutschen Wirtschaftselite kannte, ebenso wie Rohwedder und Mitarbeiter der Treuhand. Ein Professor, der Rohwedder Leute in Berlin zur Verfügung gestellt hatte, weil seine Mitarbeiter eine Möglichkeit für die Umgestaltung ehemaliger DDR-Betriebe kannten: Die Organisationsform des Gerätewerks Matrei. Matrei funktioniert seit Jahrzehnten erfolgreich als Produktivgenossenschaft. Damit es es ein Unternehmen, dessen Organisationsform modellhaft für andere Betriebe stehen könnte. Für konventionell und kapitalistisch ausgerichtete Manager und Industriebosse wäre eine solche Betriebsform ein echtes Ärgernis.

Der Vermisste Paul Stein war Mitarbeiter der Treuhand und Verfasser der so genannten „Blauen Liste“, ein Dokument mit ganz anderen wirtschaftlichen Plänen für die Zeit nach der Wende – für die westdeutsche Industrie deshalb nicht lukrativ und daher abzuwehren. Mit allen Mitteln?

Wolfgang Schorlau - Die blaue Liste

… aber vielleicht war es so

Am Ende klingen die von Schorlau entwickelten Strukturen gar nicht so unplausibel, wenn man sich von ihm die Lücken und Verdrehungen in den Ermittlungen aufzeigen lässt. Das gesamte Konzept ist schlüssig aufgebaut und bündig erzählt. Dazu kommt der Wechsel in der Rollenverteilung. Dass sich der deutsche Geheimdienst oder das BKA im Gegensatz zu ihren amerikanischen oder britischen Pendants, die in Thrillern auch mal fiese Register ziehen, nicht ausschließlich an Good-guy-Regeln halten, dürfte klar sein. Nur, man bekommt offenbar wenig Literatur mit solchen Aspekten. Wolfgang Schorlau macht erfreulicherweise etwas anderes vor, ohne beim Rhythmus oder der Konstruktion zu einem atemlosen Thriller zu werden.

Das Schlusswort überlasse ich Wolfgang Schorlau selbst:

Der Autor kann nur eine Geschichte erzählen, aber wenn Polizei, Justiz und Politik versagt haben, muss es dem Geschichtenerzähler erlaubt sein zu sagen: Es ist nur eine Geschichte, aber vielleicht war es so.

Bibliografische Angaben

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-46230-016-1
Erstveröffentlichung: 2003

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