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Alexander von Schönburg – Die Kunst des lässigen Anstands

Alexander von Schönburg – Die Kunst des lässigen Anstands

Wenn man über Anstand spricht, ist man dann eine hoffnungslos altmodische Schachtel?

Keineswegs, beruhigt mich Alexander von Schönburg. Ganz im Gegenteil, wer die Spielregeln beherrscht, macht nicht nur den Mitmenschen das Leben leichter, sonder auch sich selbst. Satte 27 Tugenden listet er auf und schildert, was davon zu gebrauchen ist.

Wer, bitte, ist der Nabel der Welt?

Viel überlegen müsse man gar nicht, um zu verstehen, warum die Tugenden aus der Mode gekommen sind. Es gelte ein Credo der „Selbstbezogenheit und Beliebigkeit“; die Ratgeberbücher, die das Optimum eines „Ich“ versprechen, mehren sich. Was passiert, wenn sich alle nur noch Nabelschau betreiben?

So fühlt sich die moderne Elite nur noch sich selbst gegenüber verantwortlich, diesem Ideal gehorchend versucht sie, alle Konventionen und Dogmen, die den Menschen belasten, loszuwerden und Selbstbestimmtheit als einzigen Sinn und Zweck des Daseins zu betrachten.

Schönburg findet nur, man muss nicht alles mitmachen, nur weil es viele tun. Es geht auch ihm um eine gute Version des Selbst, aber eben um eine, die in ein Sozialleben eingebunden ist und sich auch im Miteinander bewährt.

Von Tugenden profitieren alle

Jedes der 27 Kapitel knöpft sich eine Tugend vor, von Klugheit über Humor und Bescheidenheit, von Geduld über Gerechtigkeit und Maß, Diskretion und Toleranz bis Fleiß und Dankbarkeit. Die Liste ist wahrhaft lang und bekommt daher eine ausführliche Begründung. Schönburg liefert grundsätzlich die Geschichte der Tugenden mit, erzählt von Sagen und Heldengeschichten, die früher zur Bildung von Umgangsformen gedient haben und von Philosophen, die sich über all das intensiv Gedanken gemacht haben. Das ist ein jeweils spannend zu lesender Teil, auch im Vergleich zu anderen Ländern die historische Entwicklung unserer Gepflogenheiten zu sehen. Deren Entwicklungen gingen in der Regel von den Herrschenden aus, die sich wiederum andere als Vorbild nahmen; das waren sehr früh Stammesfürsten, später die sich bildenden kleinen und großen Fürstenhäuser im Mittelalter. Und solche Entwicklungen gingen schon mit Hühnerknöchelchen los, die man beim Essen leergenagt nicht mehr hinter sich warf.

Dass der Vorreiterrolle des Adels im Lauf der Zeit manche Dinge missglückt sind, lässt Schönburg nicht ganz aus. Für mein Dafürhalten gerät einiges aber ein bisschen verharmlosend. So manch ein Herrscherhaus wurde überaus manieriert; deutsche Häuser im Vergleich als „rustikal“ einzustufen, empfinde ich, rückblickend gesehen, nicht unbedingt als schlechter. Dass genau wegen solch überkanditelter Rollenentwicklung zum Beispiel die französische Monarchie letzlich vom Volk gekippt wurde, dürfte eine Konsequenz daraus sein.

Was geht’s mich an?

Viele Kapitel sind gespickt mit Anekdoten. Schönburg erzählt davon, wie sich die Verwandten nach dem Krieg um seine Familie gekümmert hatten, wie seine Frau die Queen begrüßt, wie sich seine Bekannten auf Partys schlagen und wieder andere Verwandte ein Hotel führen — und was das seiner Meinung nach jeweils mit einer entsprechenden Tugend zu tun hat. Alls das fügt sich zu einer wirklich interessanten und aufschlussreichen Lektüre mit vielen Denkanstößen.

Eine wichtige Erkenntnis nach Rückblicken und Exkursen ist, dass man über Jahrhunderte versuchte, sich zum Besseren zu entwickeln, während heute innert kurzer Zeit eine Veränderung „nach unten“ zu beobachten ist. Zum Beispiel bei der Höflichkeit:

Wenn alle sagen: „Macht doch jeder so“, sinkt kollektiv das Grundniveau der Gesellschaft.

Vordrängeln, fiese Handzeichen, nicht Grüßen, den Einkaufswagen mitten im Gang abstellen, keinen Platz machen, zu Boden gefallene Socken vom Wühltisch einfach liegenlassen, Kaffeebohnen nicht nachfüllen, Vorfahrt nehmen … „machen ja eh alle so“, müssen wir dann wirklich mitmachen?

Bibliografische Angaben

Verlag: Piper
ISBN: 978-3-492-05595-6
Erstveröffentlichung: 2018

2 comments

  1. „Die Kunst des lässigen Anstands“ finden wir ein höchst lesenswertes Buch, das wir jedem empfehlen können. Die Kritik, dass die neo-eso-Literatur mit ihrem Ich-Kult geradezu unanständig ist, hat uns besonders gut gefallen.
    Danke für diese Rezension
    Mit freundlichem Gruß von der nördlichen Küste Norfolks
    The Fab Four of Cley
    💃🚶‍♂️👭

    1. Bettina Schnerr says:

      Vielen Dank für deinen Leseeindruck (offenbar hat’s uns im übertragenen Sinne auch an denselben Widerhaken gejuckt …)

      Übrigens habt Ihr großartige Bilder auf eurer Website, danke für den Link, ich habe mich sehr gerne dort umgesehen.

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