Ein Landsmann von Laura Imai Messina, Federico Fellini, hat das Sprachenlernen einmal so auf den Punkt gebracht: „Eine andere Sprache ist wie eine andere Sicht auf das Leben.“ Treffender kann man es auch kaum sagen und Imai Messina macht sich diesen Aphorismus mit einem ganz besonderen Buch zu eigen. Sie wählt 72 Wörter und Redewendungen aus dem Japanischen, um das Land und seine Kultur besser zu verstehen.
[…] habe ich mich von dem Gedanken leiten lassen, dass es Geist und Intellekt schult, den eigenen Wortschatz zu erweitern, dass das Erlernen von mehr als 72 Wörtern, die eine von der unseren weit entfernten Lebenseinstellung beschreiben, vielleicht den ein oder anderen Schlüssel zum besseren Verständnis der Mitmenschen und der eigenen Person liefern kann.
Die Zahl der Wörter hat sie bewusst gewählt, weil die japanische Kultur nicht nur 4 Jahreszeiten oder 12 Monate kennt. Sie unterteilt das Jahr in 72 Mini-Jahreszeiten, die jeweils fünf Tage dauern. Jede davon beruht auf einer genauen Beobachtung der Natur und ist mit eigenen Naturphänomenen, speziellen Speisen oder Feiern verknüpft. Der erste Schritt besteht also schon darin, sich auf diesen Rhythmus einzulassen – verbunden mit der Fähigkeit, im Moment zu leben und genau jene Details wahrzunehmen, die eine Mini-Jahreszeit prägen.
In 72 Essays erkundet die Japanologin Imai Messina, wie Sprache und Kultur Hand in Hand gehen und wie die Sprache das Land und seine Gepflogenheiten verständlich machen kann.
Viel mehr als Vokabeln
Ein Beispiel dafür, wie so etwas funktionieren kann, liefert das Essay über 物の哀れ, もののあわれ, die Vergänglichkeit der Schönheit. Aber auch ihr Essay über Farbe, 色, spiegelt das in Teilen wieder. Imai Messina erschließt sich außerdem die Kultur der Entschuldigung (ごめんなさい) und die Kunst, einfach still zu sein (言わぬが花), statt mit Fragen, Erwiderungen oder Einordnungen loszulegen. Pausen während eines Gesprächs sind in Japan ein essentieller Bestandteil des Austauschs und lassen stets zu, sich Gedanken zum Gesagten zu machen. Oder sie erlauben es, einen Moment ohne Störung zu erleben, eine schöne Aussicht zum Beispiel.
Die Liste ist nicht nur deshalb mehr als eine Vokabelliste, weil sie einzelne Begriffe, aber auch Sprichwörter enthält. Sie ist es auch deshalb, weil sich Laura Imai Messina Zeit nimmt, jede Übersetzung mit Leben zu füllen. Vor allem da, wo Übersetzungen dem Sinn des Gesagten nicht gerecht werden. Wie bei 間, ma, einem Ausdruck für ein Nichts dazwischen, das aber ganz entscheidend zum Ganzen beiträgt. Oder dem 付喪神, tsukumogami, der Dingen innewohnenden Geist, der nichts mit Geistern zu tun hat, die wie ein Einsiedlerkrebs in einen Gegenstand einziehen.
Die Bandbreite der 72 Wörter ermöglicht eine umfassende Erfahrung, da viele Aspekte im Lauf der Lektüre aufeinander aufbauen. Jeder Begriff kann einen Zusammenhang zu einem vorigen herstellen, sodass plötzlich einleuchtender wird, warum Japanerinnen und Japaner sich mit Versprechungen zurückhalten, warum sie gerne das Positive sehen oder oft sehr viel geduldiger im Umgang miteinander sind, als wir es aus Europa gewohnt sind. Wie schade doch manchmal, denke ich, dass uns diese Kultur so weit weg zu sein scheint.
Eine anregende Begegnung

Ein Imai Messina äußerst wichtiger Aspekt auf ihrem Weg ist es, die Kategorisierung zu vermeiden, die im westlichen Denken vorherrscht und dem japanischen fremd ist. „Kategorien wie Richtig oder Falsch sind hier völlig fehl am Platz“, schreibt sie. Mir persönlich kommt diese Denkweise sehr entgegen — obgleich ich als Europäerin mit der Polarisierung natürlich sozialisiert wurde. Aber inzwischen stört es mich spürbar öfter als früher. Wenn Imai Messina schreibt, dass sie sich durch die Begegnung mit Japan als Persönlichkeit verbessert fühlt, pflichte ich ihr gerne bei. Das ist ein Eindruck, den der Aufenthalt im Land auch bei mir hinterlassen hat.
Die kleine Vokalbelreise kann ich nur jedem ans Herz legen, der sich offen und neugierig auf das Land einlassen möchte. Sei es, ohne vor Ort zu sein, sei es als Vorbereitung oder als Nachhall einer Reise. Ein bisschen schade ist es, dass es kein gebundenes Buch geworden ist. Für alle, die sich der Kultur nähern wollen, ist das Buch gewiss eines, dass man immer wieder in die Hand nehmen und etwas nachlesen möchte. Es ist kein Pageturner, nichts, was man in einer teereichen Nacht durchschmökert. Es ist ein Buch, für das man sich Zeit nehmen sollte — und eines, das diese Zeit absolut verdient.
Bibliografische Angaben
Verlag: btb
ISBN: 978-3-608-96639-8
Originaltitel: Wa. La via giapponese all’harmonia: 72 parole per capire che la felicità più vera è quelle condivisa
Erstveröffentlichung: 2018
Deutsche Erstveröffentlichung: 2024
Übersetzung: Stefanie Römer, Judith Schwaab
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