Irgendwann in den 1960er Jahren entwickelte sich in Japan ein Phänomen, das sich innerhalb weniger Jahre zu einem weltweiten Kult entwickeln sollte: Karaoke. Andreas Neuenkirchen begibt sich in „Völlig losgelöst“ auf Spurensuche – nicht nur nach den Anfängen, sondern auch nach den vielen Details und Abzweigungen, die die Karaoke-Karriere im Lauf der letzten fünfzig Jahre begleitet haben.
Die eine definierte Gründungsgeschichte gibt es nicht einmal. Mehrere Techniktüftler befassten sich in den Anfangsjahren mit Ideen, wie sich jeder Kneipengast mit Singen amüsieren konnte. Oder wie ein Sänger mit Hilfe von Tonbändern singen konnte, wenn seine Begleitband nicht mitkommen konnte. Allen Entwicklern gemeinsam war, dass sie wahnsinnig gerne sangen. Und sie trafen auf genug Leute, denen es genauso ging und die sich von dem großen Spaß anstecken ließen.
Karaoke ist auch eine globale Technikgeschichte
Weitere technische Entwicklungen wie die Juke Box mit auswechselbaren Platten, das „Streamen“ von Songs, aber auch TV-Shows mit Konzepten zum Mitsingen verfeinerten die Laufbahn des Karaoke Stück für Stück. So lange, bis aus einem zunächst regionalen Kneipenspaß ein Angebot wurde, das weltweit tauglich war.
Aber warum gerade Japan? Asien insgesamt hat in dieser Hinsicht einen großen kulturellen Vorteil, schreibt Neuenkirchen. Denn in Europa war Singen als Zeitvertreib und für den reinen Spaß („dank“ Intervention der Kirche) viel zu lange verpönt. Da hatte es ein Land, in dem Singen und Tanzen nicht nur bei Festen schon immer zum festen Bestandteil gehörte, sehr viel einfacher.
„Völlig losgelöst“ beschränkt sich aber nicht nur auf das Graben nach den Ursprüngen des Karaoke. Das Buch verfolgt auch, wie sich die Kultur des Karaoke entwickelt hat — und da setzt jedes Land andere Prioriäten. Während in Japan heute statt ganzer Kneipen eher kleine Karaoke-Kabinen zum Standard gehören, trällern Deutsche eher vor Publikum. Es gibt Länder, in denen die Song-Kataloge mit politischen Titeln unterstützt werden und andere, in denen Karaoke schon zu ernsthaften Streiterein geführt hat. Teils sogar mit Todesfolge. Die Frage nach Urheberrechten begleitet die Geschichte ebenso wie Patentierungen oder das organisierte Verbrechen. Freilich gibt es das Angebot auch für Nischenmärkte, die aber nicht weniger lukrativ sind: US-amerikanische Kirchen verdienen einen Teil ihrer Brötchen mit erbaulichem Liederfundus in ihren Boxen.
Für Profis und für Amateure
Zwar ist das Phänomen Karaoke inzwischen überall populär, aber Japan ist anderen Ländern nach wie vor voraus. In seinem Heimatland nämlich haben sich viele Karaoke-Kabinen zu Mini-Studios mit professioneller Tonqualität gemausert, in denen Sängerinnen wie Sänger ihre Musik einspielen und abmischen können.
Andreas Neuenkirchen hat ein überraschend vielfältiges Buch geschrieben — denn ich hätte nicht vermutet, dass man zu Karaoke so viel an Anekdoten, Entwicklungen oder Strömungen schreiben kann. Kombiniert mit seinem unterhaltsamen Stil, der gerne mit gut portinierter Ironie gespickt ist, macht Neuenkirchen selbst aus einem Thema, das mich zuvor nie sonderlich berührt hat, ein sehr interessantes und aufschlussreiches Buch. Es hat Spaß gemacht, in diese unbekannte Welt einzutauchen — ohne selbst singen zu müssen.
Wobei Neuenkirchen Mut macht: Inzwischen lebt auch er nicht mehr Karaoke-frei.
Mehr Sachbücher von Andreas Neuenkirchen
Codename Senpo • Kawaii Mania • Gebrauchsanweisung für Japan

Bibliografische Angaben
Verlag: Leykam
ISBN: 978-3-7011-8326-5
Erstveröffentlichung: 2025
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