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Andreas Neuenkirchen – Kawaii Mania

Andreas Neuenkirchen – Kawaii Mania

Andreas Neuenkirchen - Kawaii Mania

Niedlichkeit ist in Japan Trumpf. Oder um es auf Japanisch zu sagen: kawaii! Wir kennen das Phänomen ja selbst und lieben Pokémon und Hello Kitty. Doch das ist harmlos im Vergleich zu dem Ausmaß an Niedlichkeit, das in Japan gepflegt wird. Andreas Neuenkirchen zeigt in „Kawaii Mania“, dass die Niedlichkeit bisweilen sehr skurrile Auswüchse zeigen kann.

Das Buch geht zuerst einmal auf die Geschichte der kawaii-Kultur ein. Den „Urknall“ jener Kawaii-Mania, wie wir sie heute kennen, erlebte Japan in den 1970ern und Snoopy war wohl nicht ganz unschuldig. Die Peanuts-Story kannten viele Japaner nicht, wohl aber den niedlichen Hund (der bis heute einen riesigen Merchandising-Fundus ↗︎ im Land füttert). Soziologen vermuten, dass die sehr höfliche und harmonische Kultur des Landes den Grundstein dafür legt. Was niedlich ist, kann niemandem wehtun. Selbst die Steuerrechnung wirkt mit dem aufgedruckten Maskottchen des Bezirks viel freundlicher. Ohne kawaii kommt kein Lebensbereich in Japan aus.

Einmal sah ich im japanischen Fernsehen ein Experiment, in dem sich Frauen für ein paar Minuten ungezwungen über vorgegebene Gegenstände unterhalten sollten. Einzige Bedingung: Dabei dürfe nicht das Wort kawaii fallen. Alle versagten kläglich. Eine sagte sogar vor Beinn des Versuchs entgeistert: „Das geht nicht!“

Maskottchen mit Dunkelziffer

Sehr beliebt sind Maskottchen. Jede Region in Japan verfügt inzwischen über eine Figur, die sich als Püppchen an Touristen verkaufen lässt und die in lebensgroßer Gestalt auf Veranstaltungen aufkreuzt. Flughäfen haben sowas und Samurai-Burgen und sogar Pharmafirmen, die sich mit Abführtechnologie befassen. Wow!

Über 3000 solcher Maskottchen sind bekannt; tatsächlich geben wird es weitaus mehr. Und hier begegnen wir den ersten seltsamen Auswüchsen, die die Kawaii Mania hat: Bei Abstimmungen für das beliebteste Maskottchen kommen immer wieder Versuche ans Tageslicht, Abstimmungsergebnisse zu verfälchen. So wichtig ist es den Städten und Regionen, ihr Maskottchen auf dem Siegertreppchen zu sehen.

Andreas Neuenkirchen ↗︎ deckt ein breites Spektrum an Themen ab und das Phänomen kawaii fehlt tatsächlich nirgends im Alltag der Japaner. Das reicht vom Design der Schuluniformen bis in die Ausstattung Erwachsener, die durchaus mit Bärchenhandtaschen auf der Straße anzutreffen sind. Die Musikindustrie setzt extrem gerne auf kawaii und die Food-Szene sowieso. Ein Café, das etwas auf sich hält, verziert den Kaffee mit niedlichen Mustern aus Schokopulver, entwickelt spezielle Kuchen und setzt den Gästen Moomins an den Tisch.

Kawaii ist nicht immer niedlich

„Kawaii Mania“ bietet nicht nur einen bebilderten Rundgang durch die schönsten Beispiele der niedlichen Kultur. Das macht unbestritten einen Großteil des Buchs aus. Interessant wird es auch, weil Neuenkirchen darüber schreibt, wo die Kultur ins Skurrile bis Bösartige kippt. Die Abstimmungsmaipulationen sind nur ein kleiner Teil davon. Die Mitglieder von Mädchenbands müssen happigen Benimmregeln gehorchen, damit nichts die niedliche Attitüde stört und weibliche Bedienungen —nicht nur in Maid Cafés— sprechen oft gezielt mit etwas höherer Stimmlage, um niedlicher zu klingen. Es gibt sogar Arbeitgeber, die Frauen keine Brillen tragen lassen, weil sie dann nicht „weiblich“ genug aussähen. Natürlich steckt auch dahinter ein Niedlich-Klischee.

Für den Alltag insgesamt jedoch ist die Kawaii Mania in Japan tatsächlich etwas, das den Alltag bunter und freundlicher macht. In einer Stadt voller Salary Men und Office Ladys kann ein hübsches Maskottchen viel ausmachen. Eine entlegene Region erzielt mit einer kawaii Werbung mehr Aufmerksamkeit. Lebt man vor Ort, erwartet man dank der Omnipräsenz geradezu irgendetwas Niedliches. Sei es eine neckische Eintritts- oder Fahrkarte (selbst wenn sie nur für die Kinder gedacht ist), eine niedliche Tüte für die Medikamente oder wenigstens putzige Absperrungen für Baustellen. Gerade mit solchen Absperrungen sind Baustellen nur noch halb so ärgerlich.

Wenn man lang genug in den Abgrund hineinschaut, schaut er mit feuchten großen Kulleraugen zurück.

Bibliografische Angaben

Verlag: Conbook
ISBN: 978-3-95889-198-2
Erstveröffentlichung: 2019

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