Als ich vor Jahren eine Schutzhülle für mein kleines Tablet benötigte, war die Wahl klar: Eine Hülle, die aussieht wie ein Buch. Meine Wahl fiel auf eine Hülle in blaugold, aufgemacht wie ein prunkvoll verziertes und handgebundes Buch aus dem 18. Jahrhundert. Diese Produktserie namens „Paperblanks Exchange“ gibt es nicht mehr, doch ginge die Hülle kaputt, würde ich definitiv alle Hebel in Bewegung setzen, um etwas ähnliches zu bekommen.
Was für mich nur eine kleine Hommage war (und immer noch wäre), könnte beim Winterthurer Armin Müller den Sammlertrieb in Gang setzen. Der gelernte Buchbinder sammelt seit Jahrzehnten alle möglichen Dinge, die wie Bücher aussehen und doch keine sind. Über 1500 unterschiedliche Stücke sind alleine bis ins Jahr 2020 zusammengekommen. Das Material reicht von Holz über Karton oder Kunststoff bis zu Stein, Blech und Wachs. Und wofür braucht man solche falschen Bücher? Für praktisch alle Lebenslagen: Schmuckdosen, Schnapsflaschen, Anhänger, Knöpfe, Spardosen, Christbaumkugeln, Briefbeschwerer, Blumenvasen, Allzweckbehälter oder Spieldosen und sogar als Buttermodel für Butter in Buchform. Damit gehen Scheinbücher weit über Buchkunst hinaus.

Mit einer Auswahl seiner Sammlung hat Armin Müller den Bildband „Scheinbücher“ gestaltet. Mehr als 800 Abbildungen zeigen die enorme Bandbreite des bibliophilen Produktdesigns. Sortiert nach elf Einsatzbereichen ist das Buch eine Mischung aus kreativer Zeitreise und Dokumentation einer Sammelleidenschaft. Müller erzählt zu jeder Kategorie eine kleine Anekdote zu einem besonderen Sammlerstück. Er erinnert sich an seinen Berufsschullehrer, ebenfalls ein Sammler, dessen Kollektion ihm nach dessen Tod von der Familie angeboten wurde. Oder an eine Keksdose, die er lange gesucht hatte und sie bei einer Galeristin fand – die nicht verkaufen wollte.
Während viele Bilder schlicht die Sammlung dokumentieren, gehen manche Bilder auf spezielle Öffnungsmechanismen ein. Andere wiederum zeigen die Innenausstattung von Schachteln, Kartenspielen oder Kosmetikdosen.

Für mich war der große Bildband ein unterhaltsamer Ausflug und Einblick in eine Kunstform, die im Museum kaum zu sehen ist. Kaum einmal geht eine Museumssammlung mit historischem Zierrat über ein Einzelstück hinaus. Falls jemand Freude an solchen bibliophilen Dekorationen hat, kann man sich das Buch viellcht einmal ausleihen, wenn es irgendwo in Reichweite möglich ist. Soweit der Sinn für Nicht-Sammler.
Für Müller und andere Sammler erfüllt der Bildband einen ganz anderen Zweck: Zu Scheinbüchern gibt es in den Bibliothekswissenschaften oder in der Sammlungskunde bislang praktisch kaum Dokumentationen. Zu Tapeten, Vasen oder Spieluhren gibt es viele Abhandlungen, die Produktion oder Muster einordnen und den Herstellern hinterher forschen. Bei Buchattrappen ist zugehörige Literatur Mangelware – ausgerechnet …
Müller will mit seinem Buch in Fachkreisen also auch einen Grundstein für weitere Forschungsarbeit legen. Also ein ernstzunehmendes Fachbuch für die einen, ein Coffeetable-Book für zwei Wochen für die anderen – und wie cool ist es doch, dass ein Fachbuch mindestens diese zwei Zwecke erfüllen kann.

Bibliografische Angaben
Verlag: Benteli
ISBN: 978-3-7165-1859-5
Erstveröffentlichung: 2020
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