Aurelio, ein Bergsteiger, der oberhalb vom Comer See eine kleine Alp bewirtschaftet, trifft bei einer seiner Runden auf einem Steilhang des Monte Croce di Muggio einen seltsamen Mann. Abgesehen davon, dass er überhaupt auf diesem unwegsamen Gelände unterwegs ist, scheint er sich mit Vögeln zu unterhalten. Kurz darauf löst sich ausgerechnet hier ein Erdrutsch. In kurzen Abständen darauf gibt es weitere in den Alpen. Schnell macht das Gerücht die Runde, die Vögel seien die Vorboten der Katastrophe gewesen. Der Unbekannte wird als der Tierarzt Giorgio Colombo identifiziert und fortan als „Vogelmann“ verehrt. Ausgehend von einem nahen Kloster wird er als eine Art neuer Franziskus gesehen; andere sehen in ihm das letzte Warnsignal, die Botschaften der Natur endlich ernst zu nehmen und Klima- und Umweltschutz zu forcieren.
In dieses Szenario gerät auch die Unternehmensberaterin Carlotta Widmer, die auf Nachhaltigkeit spezialisiert ist. Was auf dem Papier gut klingt, sieht in der Realität frustrierend falsch aus. Unternehmen geben zwar viel Geld für ihre Expertise aus; letztlich wird sie aber dafür bezahlt, die höchstens kleinen Anpassungen wortreich zu großen Änderungen zu erklären und die bestehende Firmenstrategie so grün wie möglich zu verkaufen. Carlotta ist zunehmend frustriert, dass sich niemand für wirklich nachhaltige Strategien interessiert.
Augen zu und durch
„Erdrutsch“ spielt in einer nahen Zukunft, in der die klimatischen Veränderungen noch deutlicher zutage treten — und dennoch ist zwischen dem Heute und jener Zukunft weder wirtschaftlich noch politisch viel passiert. In Davos treffen sich nach wie vor Politiker und Wirtschaftsbosse, um sich gegenseitig fürs Nichtstun auf die Schulter zu klopfen. Auch Carlotta lässt sich akkreditieren, in der Hoffnung, dass die Erdrutsche wenigstens bei einigen wenigen ein Umdenken angestoßen haben.
Die Realität zeigt, dass die Menschen nun noch mehr Geld ausgeben und auf ihr Vergnügen nicht verzichten wollen. Während noch Zehntausende wegen Überschwemmungen (die wenig später auftreten) in Notunterkünften ausharren, sind die verschonten Skigebiete völlig überbucht — zu horrenden Preisen.
Wenn man sich schon in diesen schlechten Zeiten einen Urlaub leistet, dann darf es ruhig ein wenig terer sein. Wer sich amüsieren kann, während andere ums Überleben kämpfen, zahlt dafür gerne einen angemessenen Preis.
Die Technik wird’s schon richten
Die einzig spürbare Konsequenz der Umweltkatastrophen ist lediglich ein Geldregen für die Vogelforschung. Statt hilfreicher Maßnahmen zur realistischen Lenkung von zum Beispiel Urlaubsflügen oder industrieller Prozesse, üben sich die Verantwortlichen in „Technologieoffenheit“. KI soll’s richten, Vogelsprache entziffern und die „Warnungen“ der Vögel in menschliche Sprache übersetzen.
Der arme Mann soll jetzt wie am Fließband mit Krähen sprechen, die er gar nicht kennt. Alle zwei Tage soll er Aussagen über Gegenden treffen, in denen er nie zuvor gewandert ist Das ist typisch für das ökonomische Denken! Alles muss messbar sein, alles muss nach Regeln funktionieren, damit das Produkt massenhaft verkauft werden kann.
Dabei zeigt sich, dass Krähen oder Eichelhäher schlaue und lernfähige Tiere sind. Lebewesen, die sich an neue Gegebenheiten anpassen und Schwierigkeiten untereinander kommunizieren. Aber die Idee zeigt auch, dass Menschen ihre Verantwortung gerne an andere delegieren. Was eigentlich aus eigener Kraft möglich wäre, sollen in diesem Fall Vögel übernehmen. Was könnte schon schief gehen? Es ist erstaunlich zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit viel Geld in windige Technikprojekte gesteckt wird, wenn zugleich günstigere und effizientere Möglichkeiten existieren. Aber diese müssten dummerweise selbst erledigt werden.
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Der Verlag kündigt mit „Erdrutsch“ eine ganze Buchreihe an, die „mögliche Versionen der allernächsten Zukunft“ visualisiert. Die meisten der obigen Buchempfehlungen erfüllen dieselbe Einschätzung und nutzen im Gerüst ihrer Erzählung diverse Ereignisse, wie sie bereits vorgekommen sind. Man sollte sich an dieser Stelle klarmachen, dass Bücher wie dieses eine Fiktion sein mögen, und doch Szenarien entwerfen, die in Europa genau so geschehen (können). Letzteres bewusst in Klammern; der Roman wurde im Mai 2025 auf dramatische Weise von der Realität eingeholt. Da las ich gerade die letzten Seiten und brauchte durch die Synchronität der Ereignisse eine Lesepause.
Obgleich freilich die Korrelation zwischen Klimawandel und jenem konkreten Erdrutsch in Blatten nun eine Arbeit für Forscherinnen und Forscher wird: Die Auswirkungen bleiben am Ende dieselben. Bergsport zum Beispiel wird schon seit einigen Jahren als gefährlicher eingestuft, weil Steinschlag und Eisabgänge zunehmen.
Und noch an einem anderen Punkt haben Spinnen Wolkenstein realistische Bilder gewählt: Sie beschreiben ein lokales Konzept, in den Alpen nachhaltiges Wirtschaften zu etablieren. Es ist noch nicht richtig spruchreif, da reißt es sich die Politik unter den Nagel. Wenn man schon sonst nichts macht, ein bisschen Trittbrettfahren für ’ne neue Lackschicht auf dem Image geht immer.
Bibliografische Angaben
Verlag: Kanon Verlag
ISBN: 978-3-98568-161-7
Erstveröffentlichung: 2025
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