Nichts ist mehr so, wie es einmal war. So einfach kann man zusammenfassen, wie England in einer imaginären Zukunft aussieht: Das Land wurde nach „dem Wandel“ komplett mit einem wahren Monster an Mauer umschlossen. Zum Einen, um den gestiegenen Meeresspiegel abzufangen, der weite Teile der Welt nach einer Klimakatastrophe überschwemmt hat. Zum Anderen, um die Menschen aus den überschwemmten Gebieten daran zu hindern, nach England hinein zu kommen. Dafür leistet jeder junge Engländer einen zweijährigen Pflichtdienst ab. Wie der abläuft und wie die Gesellschaft funktioniert, lernen wir mit dem Erzähler Joseph Kavanagh kennen.
Die Regeln für seinen Dienst sind klar und deutlich, aber auch brutal: Für jeden „Anderen“, der es trotz Verteidigung über die Mauer schafft, wird ein Engländer auf dem Meer ausgesetzt. Auf diese Weise wird nicht nur bestraft, auf diese Weise erhält man sich offenbar auch den Lebensunterhalt. Denn viel von jenem Essen, das man heute kennt, gibt es nicht mehr (irgendwie grüßt mich hier leise der Roman Hysteria im Hinterkopf) oder es wurde zu einem Luxusgut.
Kein Bock auf jene, die alles versaut haben
Viel über die „Anderen“ weiß Kavanagh nicht. Er ist damit beschäftigt, die stundenlangen Wachdienste zu überstehen und die Erholungspausen dazwischen. Alle paar Wochen darf man nach Hause. Auf Familienbesuche haben junge Menschen in dieser Welt allerdings wenig Lust. Dabei trifft man nämlich unweigerlich auf jene Leute, die die Welt ruiniert haben. Wie begegnet man Leuten, die die Klimakatastrophe durch Untätigkeit hervorgerufen haben? Am besten gar nicht, aber woanders kann man in der Regel nicht hin. Ein anderes Zuhause gibt es nicht und so hängen lautlose Schuldvorwürfe und stumme Schuldeingeständnisse in der Luft.
„Du kennst doch diese Redensart, wo die Leute sagen, mach die keine Sorgen, vielleicht kommt es ja gar nicht erst so weit? Das hier ist etwas anderes. Du bist auf der Mauer. Es ist längst so weit gekommen.“
Wie es auf der anderen Seite der Welt zugeht, erklärt sich langsam aber sicher. Einen ersten Hinweis gibt das Gespräch von Kavanagh mit einem der Anderen, die es über die Mauer geschafft haben. Während die Engländer zur Klimakatastrophe sehr milde „der Wandel“ sagen, benutzt man außerhalb „das Ende“.
Überleben auf dem Meer
Wie viel besser dieser Begriff passt, zeigt der Schlussteil des Buchs, betitelt mit „Das Meer“. Kennt jemand noch den Film „Waterworld“ von Kevin Costner? Ich habe den Film nie in voller Länge gesehen und doch fühlte ich mich immer wieder an Costners Endzeitszenatrio erinnert. Die Welt besteht praktisch nur noch aus Wasser, auf dem Wasser verzweifelte Menschen, die gegen Winde, Stürme und Piraten ankommen müssen, aber keine vernünftigen Mittel dagegen haben. Überleben ist Glückssache.
Vielleicht hilft die Flucht nach England, vielleicht aber auch die Fahrt nach Süden. Dort soll es noch Land geben, aber ob man in einer Welt ohne Strände irgendwie an Land kommt, ob einen die Menschen dort überhaupt an Land lassen, ist unklar für jene, deren Seefahrt im dritten Teil begleitet wird. Das Meer ist ein gesetzloser Raum, ganz genau das Gegenteil von dem, was früher die Staaten und die Gesellschaft gewährleistet haben. Im Fall dramatischer Umwälzungen gehen zahlreiche Sicherheiten mit vor die Hunde.
Ein Netz voller Anknüpfungspunkte
Was John Lanchester abliefert, ist eine Story voller Anspielungen. Man kann als Leser sehr viele Themen entdecken. Allem voran die Klimakatastrophe, die sich zu einem riesengroßen Problem ausgewachsen hat und ab einem bestimmten Zeitpunkt sämtliche Handlungsspielräume ausradiert hat. Infolgedessen eine gesellschaftliche Neuorientierung. Die Generationen sind einander spinnefeind geworden, weil nichts „einfach so“ passiert ist. Allen ist klar, dass die Untätigkeit der Eltern dazu geführt hat. Die Jüngeren müssen die Suppe auslöffeln und die Anderen sowieso. Die jungen Engländer und Engländerinnen tun zwar ihren Dienst auf der Mauer, letztlich sind aber auch sie (wenn auch in harmloserer Form) Opfer der Tatenlosigkeit der Generationen vor ihnen. Die Idee des Kinderkriegens ist für viele von ihnen völlig absurd geworden, weil die Welt selbst hinter der Schutzmauer kaum noch lebenswert erscheint.
In einer anderen Welt wäre er ein guter Vater gewesen. Als ich zum Teenager wurde und allmählich begriff, dass die Welt nicht immer schon so ausgesehen hatte, wie sie es jetzt tat, und dass die Leute, die für ihre jetzige Gestalt verantwortlich waren, unsere Eltern waren -sie und ihre ganze Generation-, funktionierte das nicht mehr. Ich will ihren Rat nicht mehr hören oder wissen, wie über irgendetwas denken, niemals wieder.
Kleiner gedanklicher Abstecher: Als ich dieses Zitat entdeckt hatte, musste ich an Greta Thunberg denken. Mit ihr kommt eine Generation in Bewegung, die genau das verhindern will, was ihr Lanchesters Dystopie an Schicksal verpasst. Uwe Kalkowski weist in seiner Rezension kongruent darauf hin, wer diese Elterngeneration ist: Wir. Eine Generation, die Kerstin Baumgarten als jene identifiziert, die sich nur Gedanken bis zur Mauer macht, aber nie darüber hinaus.
Parallel dazu schwingt die generelle Haltung gegenüber Flüchtlingsfragen mit. Das aktuelle Gegenstück ist die Flüchtlingssituation im Mittelmeer. Die unbedingte Zurückweisung ist nicht nur eine moralische Frage fremdem Leben gegenüber, sondern auch eine zur Verantwortung. Wie im Buch gibt es eben einen Auslöser, der die lokale Situation so verschlechtert hat, dass Flucht für viele als einzig mögliches Mittel übrig blieb.
Schwarzmalerei aus gutem Grund
Der klaren Haltung Lanchester gegenüber kann ich über die eine oder andere unplausible Gestaltung seiner apokalyptischen Welt hinwegsehen. Wo kommen zum Beispiel die Unmengen an Sand her, um eine so gigantische Mauer zu bauen, wenn es keine Strände mehr gibt?
Lanchester strickt mit Generationenzwist, politischen Fehlern und Klimakatastrophe fast schon zu viele Ansätze ins Buch. Dadurch wird im Gegenzug keiner richtig ausgeführt und Lanchester lässt das Buch zusätzlich offen enden. Andererseits bringt dieses Halbfertige Variationen ins Spiel, die jeder Leser für sich weiterspinnen kann. Welche Vision ist jene, die die größten Befürchtungen auslöst? Wogegen kann man etwas unternehmen und was? Und wie schnell, bevor uns die Entscheidungsmöglichkeiten aus der Hand genommen werden?
Wer sich auf den Weg auf diese desaströse Insel macht und mit Kavanagh mitlebt, wird -schätze ich- dieses Buch nicht so schnell vergessen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-96391-5
Originaltitel: The Wall
Erstveröffentlichung: 2019
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Dorothee Merkel
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