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Die neuen Zukunftsvisionen: Dunkel und düster, bitte

Die neuen Zukunftsvisionen: Dunkel und düster, bitte

Im Januar stieß ich bei Deutschlandfunk Kultur auf ein Gespräch mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler, die in den aktuellen Veröffentlichungen überdurchschnittlich viele Dystopien ausmacht.

Seit einiger Zeit beobachte ich, dass die Zahl der Zukunftsromane stark zunimmt. Allerdings sind das keine optimistischen Zukunftsbilder, keine großen Weltverbesserungsentwürfe, keine verheißungsvollen alternativen Gesellschaftsmodelle. Es wimmelt von Schreckensszenarien und von apokalyptischen Untergangsvisionen. Es herrscht Endzeitstimmung, Schwarzmalerei, Radikalpessimismus, wohin man schaut.

Als ich den Beitrag gehört hatte, fiel mir auf, dass ich selber eine kleine Auswahl an Dystopien gelesen oder mir zumindest vorgemerkt hatte. Mein persönliches Interesse daran deckt sich mit dem, was aktuell vermehrt veröffentlicht wird.

Warum das Ganze so interessant ist? Im Prinzip bilden die Bücher jene Themen ab, die derzeit und in den kommenden Jahren starke Veränderungen hervorrufen. Daraus ergibt sich natürlich die Frage, wie die weitere Entwicklung verlaufen wird. Dass es in Dystopien die jeweils schlimmstmögliche ist, hat einen Grund: Wie sonst sollte man die LeserInnen zum Nachdenken anregen? Eine schöne Zukunftsvision ist im besten Fall langweilig, im ärgsten lullt sie ein. Mit dem Ergebnis hätten wir dann nur nichts zu tun, weil wir entweder nichts gestaltet haben oder die Gestaltung anderen überlassen haben – selten zu unseren Vorteil.

Dabei mache ich grob zwei Themenkreise aus, die Umweltdystopien und die Gesellschaftsdystopien. Die Grenzen dazwischen lassen sich manchmal klar ziehen, manchmal verschwimmen sie. Denn es ist klar, dass umfassende Umweltveränderungen bisherige politische und gesellschaftliche Ordnungen auf den Kopf stellen. Die Frage ist also nicht nur, wie wir mit der Umwelt umgehen, sondern auch, wie wir gesellschaftlich auf solche Veränderungen reagieren müssen.

Ein weiteres Thema, das AutorInnen stark umtreibt, ist die digitale Welt. Diese nimmt in den Gesellschaftsdystopien im Prinzip schon einen eigenen Platz ein und eigentlich alle stellen die Frage, wie sich Vorteile und Nachteile gegeneinander aufwiegen. Digitalisierung in den Büchern bedeutet die Aufgabe zahlreicher Freiheiten und eine Überwachung, die aus einst nett gemeinten Optimierungstools gewachsen ist.

Ich möchte ich euch gerne jene Dystopien vorstellen, die ich schon selber gelesen habe, die bereits im Regal auf mich warten sowie jene, die mir auf anderen Blogs aufgefallen und von denen viele auf meine Wunschliste gewandert sind. Verlinkte Buchtitel führen zu Rezensionen auf Bleisatz, alle anderen Rezensionen sind über die Namen der jeweiligen Blogs verlinkt.

Wer weitergehende Tipps hat und sich selbst gerade mit literarischen Zukunftsmodellen befasst, ist in den Kommentaren herzlich willkommen.

Leben in einer grausam gezeichneten Welt

Aus dem eigenen Bücherregal stammt aus dieser Kategorie Hysteria von Eckhart Nickel. Diese Zukunftsvision schaffte es 2018 auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis. Nickels Roman lässt lange unklar, was genau los ist. Der Leser mag vielleicht ahnen, was die Hauptperson namens Bergheim am Ende mit Schrecken begreift: Eine Umweltkatastrophe hat die bisherige Lebensmittelbeschaffung völlig auf den Kopf gestellt. Abhilfe ist unter strenger Geheimhaltung möglich, doch das Wissen um die wahren Umstände hinterlässt Bergheim verwirrt und hilflos.

Mit unserer Lebensgrundlage, dem Essen, hat auch Die Geschichte der Bienen von Maja Lunde zu tun. Der Blog Lesen in vollen Zügen ordnet das Buch ein mit den Worten „Ich wusste, daß es ein Buch ist, das mich aufwühlen würde. Und ich wusste, daß es ein Buch ist, das ich lesen muss.“ In drei Geschichten, lose miteinander verknüpft, erzählt Lunde historisch, zeitgenössisch und visionär davon, was die aktuelle Dezimierung ganzer Bienenpopulationen für die komplexen Nahrungsketten der Erde bedeutet.

Wieder ein Buchempfehlung meinerseits: Eine Umweltkatastrophe hat bei John Lanchester die bekannte Welt förmlich weggespült: Die Mauer soll England nicht nur vor den Fluten schützen, sondern auch vor Flüchtlingen aus überfluteten Gebieten. Der massive Wandel schafft politische, gesellschaftliche und ökologische Probleme gleichermaßen, die Lanchester als volle Breitseite abfeuert.

Ganz anders sind die Auswirkungen bei Cormac McCarthy. Näher beschrieben ist in Die Straße nicht, was genau passiert ist. Aber McCarthy kreiert eine derart düstere Szenerie in grauer Asche, dass der Blog Letusreadsomebooks dieses kurze Buch nicht nur als intensiv beschreibt, sondern auch als „vermutlich eines der deprimierendsten Bücher, die sich in der Buchhandlung finden lassen“. McCarthy untersucht, was von sozialen Gepflogenheiten übrig bleibt, wenn es ums nackte Überleben geht.

Die positiven Utopien sind verschwunden

Nominiert für den Schweizer Buchpreis 2018 und prämiert mit dem Schweizer Literaturpreis 2019 war Julia von Lucadou mit Die Hochhausspringerin, ein Buch, das ich sehr geschätzt habe. Die Umweltbedingungen funktionieren hier, aber die Gesellschaft hat sich zu ihrem Nachteil entwickelt. Aus der einst als erfreulich gepriesenen Selbstoptimierung ist ein übergreifender Zwang geworden, der perfekte Anpassung belohnt und jegliches Fehlverhalten sanktioniert. Im schlimmsten Fall droht Ausgrenzung in so genannte Peripherien für ein Verhalten, das heute noch als ganz normal gilt.

Von Troll behauptet Autor Michal Hvorecky, die Wirklichkeit habe seine Fiktion längst überholt. In seinem Heimatland Slowakei mischen Politiker nach Kräften bei Fakenews mit, unterstützen mit ihrem Stänkern gegen Journalisten und Fachleute die Arbeit von Internet-Trollen und sorgen generell für ein Klima des Misstrauens. Der Roman treibt die Hetze auf die Spitze, immer mit dem ekligen Kribbeln im Nacken des Lesers, der weiß: Ganz so weit weg ist das Szenario wirklich nicht. Dieser Meinung bin ich ganz sicher.

Seit letzen Herbst weist der Kaffeehaussitzer sehr gerne auf Christian Torkler und dessen Roman Der Platz an der Sonne hin. Torklers Erzählkniff: Er dreht die wirtschaftliche und politische Verteilung der Welt komplett auf Links. Das heutige Europa wird zur Dritte-Welt-Region mit totalitärer Politik, deren Bevölkerung ihr Heil in der Flucht sucht. Der Flucht nach Afrika, wo alles besser ist. Nur hinkommen muss man, der Weg ist gefährlich und voller Entbehrungen: „Es ist ein konventionell erzählter Roman … mit vielen schockierenden Details. Die es alle wirklich gibt. Nur auf der anderen Seite des Mittelmeers.“

Im Prinzip kommt einem schon die Galle hoch, wenn man sich die Beschreibung von Vox anschaut, geschrieben von Christina Dalcher. Mehr als 100 Wörter werden Frauen nicht zugebilligt, sonst hagelt es Stromschläge. Die perfekte Überwachung, eine gewaltsame Zuorndung der Geschlechterrollen (und eine perfide Zuspitzung dessen, was in manchen Staaten immer noch zum Alltag gehört). Mehr zum Buch findet ihr im Blog Ink of Books.

Die totale Überwachung wartet auch in Gestalt von Der Würfel auf mich, geschrieben von Bijan Moini. Ein perfekter Algorithmus sorgt künftig zum Beispiel für ein Grundeinkommen oder wählt für den Bürger -wie praktisch- das Parlament. Man muss den intelligenten Würfel dafür lediglich mit sämtlichen Daten und Vorlieben füttern, um „profitieren“ zu können. Ein junger Mann trickst den Würfel seit geraumer Zeit aus. Dadurch wird er interessant für den Widerstand und muss sich zwischen seinen Idealen und einer perfekt bequemen Welt entscheiden.

Aus der Liste von Sigrid Löffler

Im Radiointerview wird neben John Lanchesters Mauer, die ich oben schon vorgestellt habe, noch mehr Literatur vorgestellt. Aus dieser Auswahl sind mir die folgenden Titel besonders aufgefallen:

Auf das Buch von Sibylle Berg muss man noch bis April warten, aber das ist ja nicht mehr lange hin. Ihre Gesellschaft in GRM. Brainfuck hat die Wahl zwischen einem Regierungschip unter der Haut, der ein Grundeinkommen sichert, aber auch die völlige Überwachung gewährleistet, und einem Leben ohne jegliche Absicherung. Vier Jugendliche wollen gegen das System angehen. Eine sehr gute Auseinandersetzung mit diesem Buch findet ihr bei Frau Hemingway.

Das total vernetzte und überwachte Leben spielt auch bei Marie Darrieussecq eine Rolle. Unser Leben in den Wäldern erzählt von Menschen, die der totalen Überwachung, KI-Menschen, Robotern und implantierter Technik entgehen wollen. Eine Ich-Erzählerin schreibt einen Mahnruf, ohne zu wissen, ob sie je jemanden damit erreichen wird.

Schon im Regal, aber noch ungelesen, steht Ryu Murakami mit dem ersten Band von In Liebe, dein Vaterland. Murakami lässt Japan auf Grund dessen enger Kopplung an die USA dem wirtschaftlichen Niedergang entgegensausen, nachdem die USA praktisch bedeutungslos geworden ist. Das Land wird „zum Schnäppchen“ für Nordkorea. Eine Buchvorstellung gibt es bereits auf Postmondän.

Sehr spannend klingt auch, was Löffler über Juan S. Guse und sein Miami Punk sagt. Guse schreibt über die Arbeitsbedingungen der Zukunft und den Sinn von Arbeit und Dasein, wenn Roboter die Arbeit übernehmen. Gleichzeitig stellen drastische Veränderungen der Natur die Bewohner Floridas vor gesonderte Herausforderungen, denn es gibt plötzlich kein Meer mehr, keine Kreuzfahrten, keine Touristen, nur Wüste.


Foto: Evan Kirby, unsplash

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