Bei Marc-Uwe Kling tauche ich „late to the party“ auf. Alle haben längst abgeräumt und durchgefeudelt, und Kling hat inzwischen neue Bücher geschrieben. „Qualityland“ stammt von 2017, inzwischen schreiben wir das Jahr 2024. Ich bin also satte sieben Jahre hinterher.
Moment, bin ich das in diesem Fall wirklich? Wüsste man nicht, wann Klings Dystopie-Science-Fiction-Satire erschienen ist, würde niemand meine Verspätung bemerken. Das nämlich gleich vorweg: Eine schlechte Alterung ist das allerletzte, was man „Qualityland“ vorwerfen könnte.
Die Geschichte spielt in einem Land, das sich selbst für so großartig erklärt hat, dass über alles nur im Superlativ gesprochen wird. Die Arbeit wird hoch automatisiert erledigt und für echte Menschen sind oft nur noch Tätigkeiten übriggeblieben, die gerne als „Bullshit-Jobs“ beschrieben werden. Was nicht in Qualityland selbst produziert wird, kommt aus Ländern wie Quantityland – das Ranking untereinander unterscheidet sich nicht von der Haltung und Gewichtung, mit der reale Länder miteinander umgehen.
Der Fehler im System
Peter Arbeitsloser (die Nachnamen ergeben sich stets aus dem Job von Vater oder Mutter) führt eine der Erzählungen. Er arbeitet als Maschinenverschrotter und der alles dominierende Online-Laden TheShop liefert ihm eines Tages einen rosafarbenen Delfinvibrator per Drohne. Damit beginnen die Probleme. Ein klassisches Bestellwesen gibt es bei TheShop nicht. Denn der Anspruch von TheShop ist es, auf Basis von Algorithmen selbst zu entscheiden, welche Produkte die Kunden benötigen. Peter aber will aber keinen Vibrator und begibt sich in einem System, das sich für unfehlbar hält, auf eine verzweifelte Suche nach dem Fehler.
Die andere Erzählung folgt John of Us. Er ist Androide und wurde als Präsidentschaftskandidat geschaffen. Er kann sehr viel gleichzeitig erledigen und er hat den Sachverstand, die komplexen Probleme der Gesellschaft strukturiert zu analysieren und vernünftige Lösungen zu erarbeiten. John kann allerdings auch nicht lügen, was zu einem absolut ehrlichen Wahlkampf führt. Den wünschen sich die Menschen freilich schon lange. Doch als sie ihn bekommen, irritiert die offene Darlegung der wirtschaftlichen Probleme so sehr, dass John of Us mickrige Umfragewerte erzielt.
Alles schon da und es wird noch schlimmer
Marc-Uwe Kling spitzt die Digitalisierung letztlich auf genau das Ende zu, das sich durch eine konsequente Weiterentwicklung des Existierenden ergibt. Was bei Julia von Lucadou eher düster daherkommt und bei Anthony McCarten hochspannend, erledigt er auf humorvolle Art und Weise.
Es gibt ein soziales Netzwerk, das Profile selbst von jenen Leuten anlegt, die nicht angemeldet sind. Die Online-Bubbles der Menschen sind durch Algorithmen derart ausgeprägt, dass Nachbarn praktisch in unterschiedlichen Lebensrealitäten unterwegs sein können. Und künstliche Intelligenzen sind so intelligent geworden, dass sie Captchas überlisten und sogar eine Art Bewusstsein entwickeln.
Die Perfektion, die sich Qualityland selbst zuschreibt, hat natürlich einen Haken – ehrlich gesagt, mehr als nur den einen sprichwörtlichen. Kalliope 7.3 zum Beispiel, eine Romane schreibende Androidin, leidet an Schreibblockade. Der Kapitalismus ist so weit gediehen, dass TheShop eben nicht nur aus eigenem Antrieb Produkte verschickt und bezahlen lässt. Es gibt sogar „Konsumschutzgesetze“, die Reparaturen verbieten. Was kaputt geht, muss zwingend neu beschafft werden. In der Politik ist „fair“ keine akzeptable Kategorie (sonst hieße Qualityland übrigens Equalityland – siehe Buchcover). Marc-Uwe Kling dürfte die Politik nicht umsonst als einen der wenigen Bereiche aufgebaut haben, in dem ein Android fachlich tatsächlich die bessere Arbeit leistet.
Eines der zentralen Probleme betrifft die Menschen auf sehr persönlicher Ebene:
„‚Jeder lebt in seiner eigenen Welt.‘ Im digitalen Raum ist das nicht nur eine Floskel. Es ist wortwörtlich wahr. Du lebst in deiner eigenen Welt. Eine Welt, die sich dir konstant anpasst. Das Netz passt sich natürlich nicht dir an, sondern dem Bild, das es von dir hat. Deinen Profilen. Verstehst du jetzt dein Problem? Wenn deine Profile falsch sind …“
„… dann lebe ich in der falschen Welt“, murmelt Peter.
Es ist ja nicht so, dass es dieses Problem im analogen Bereich nicht gäbe. Kling verdeutlicht es mit den Nachnamen seiner Figuren. Bereits das Elternhaus stellt Weichen. In einer Welt, in der Menschen nach Herkunft gelevelt werden, kann ein digitales System das gesellschaftliche Muster lediglich kopieren und wird es wegen seiner Bauart schlicht verschärfen.
Gibt es einen Weg nach draußen?
Keine Frage, in Qualityland passiert natürlich genau das. Und es wird zunehmend schwieriger, solche Fehler zu erkennen, geschweige denn, zu beheben. Wer ein System entwickelt hat, mag einfach nicht hören, dass er Fehler gemacht haben könnte. Da digitale Systeme immer noch als fehlerarmes Optimum gelten, werden Korrekturen immer schwerer, je weiter sie in unser Leben eingreifen:
„Selbst, wenn Sie recht damit hätten, dass Ihr Profil nicht stimmt, könnten wir das niemals zugeben, denn dann hätte das System einen Fehler gemacht, aber das System macht keine Fehler.“
„Doch!“, ruft Peter. „Bei mir hat es einen Fehler gemacht!“
„Nein. Das geht nicht. Wenn das System einen Fehler gemacht hätte, hätte es sicherlich nicht nur einen Fehler gemacht. Es hätte viele Fehler gemacht.“
Tja, da soll Peter Arbeitsloser nun einsehen, dass der gesamtwirtschaftliche Schaden, den eine Korrektur hätte, wichtiger ist als sein Leben? Auf die Idee, dass der berechnete Schaden überhaupt erst durch die Fehler zustande kam (und selbstredend weiter steigen wird), kommt Peters Gesprächspartner in dieser Szene übrigens nicht.
Die beste 😉 Rezension zu Qualityland
Ganz im Sinne des Erfinders muss ich freilich die beste Buchvorstellung abliefern, die zudem am spätesten erschienen ist, ganz sicher am längsten ist und die perfekteste Begründung liefert, warum man „Qualityland“ lesen sollte. Denn, wie gesagt, beschreibt sich Qualityland grundsätzlich in Superlativen. Das gilt meiner Meinung nach auch noch sieben Jahre nach Erscheinen.
Vor allem ist dieses Buch, egal ob in der grauen oder schwarzen Edition, ganz sicher etwas für Leser:innen, denen zum Beispiel Sibylle Bergs Zukunftsentwurf zu finster ist. Lustiger werden die Konsequenzen aus den wuchernden Technologieeinsätzen in beiden Fällen gewiss nicht, aber wenigstens haben wir beim Lesen etwas mehr Spaß. Den brauchen wir noch ein bisschen. Zumal sich die wesentlichen digitalen Leistungen und die daraus erwachsenden Kapitalgewinne auf immer weniger Konzerne beschränken und in diesem Fakt sieht manch ein KI-Experte, wie ich in einem Interview mit einem Forscher erfuhr, das größte Risiko auf uns zukommen. Ein größeres, als durch die KI selbst.
Aktuelle Fundsachen, auf Basis meines Lese-Algorithmus von mir als „benötigt“ vorgeschlagen
Zwischen 2017 und 2022 testete die Post Drohnen für dringende Spezialleistungen. Sie versteht sich als Branchenpionier, sieht die Zeit für Drohnenlieferungen aber noch nicht gekommen. McKinsey meldet Ende 2023, dass in jenem Jahr weit mehr als 2500 Pakete täglich per Drohne zugestellt wurden.
Bild: Schweizerische Post AG
2018 startet Waymo (eine Tochterfirma von Google) in Phoenix, Arizona, den ersten kommerziellen Taxi-Service. Seit 2021 gibt es diesen Service auch in San Francisco (siehe Bild), seit 2023 in Los Angeles, jeweils in bestimmten Stadtvierteln.
Bild: Waymo LLC
Bibliografische Angaben
Verlag: Ullstein
ISBN: 978-3-550-05023-7
Erstveröffentlichung: 2017
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