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Bleisatz

Literatur, Rezensionen & mehr

Louise Erdrich und die Page 99

Louise Erdrich und die Page 99

… lem Anschein nach ist der gesamte Lauf der Evolution bis in undere Tage in irgendeinem unentdeckten Bestandteil des Bluts oder Gewebes unentzifferbar eingeschrieben.“

Mit wem die Frau auf Seite 98 kommuniziert, weiß ich zunächst nicht. Ich weiß nur sehr sicher, dass es eine Frau ist: Wenige Zeilen später verrät sie, sie sei schwanger und dazu macht sie sich Gedanken. Darüber, was in ihrem Körper heranwächst zum Einen. Darüber, dass mit der Gesellschaft etwas vor sich geht zum Anderen.

Faszinierend, was für ein komplexes Lebewesen sich da heranbildet. Und dennoch: „Mein Körper vollbringt die erstaunlichsten Dinge, und zugleich läuft etwas schief, und zwar grauenhaft schief …“ Irgendetwas mit der Evolution, vermute ich. Denn die Protagonistin äußert sich zudem so: „Unsere Körper haben immer gewusst, wer wir früher waren. Und jetzt haben sie beschlossen, umzukehren.“ Der Mensch entwickelt sich zurück? Das muss es sein und es muss auf eine Weise geschehen, die verängstigt. Zwischen den Zeilen spüre ich mehr als die Frage, ob das Kind mehr nach Mama oder Papa kommt.

Sie sitzt vor einem Bildschirm und tippt ihre Gedanken nieder. Ein Laut von ihr verrät ihre Anwesenheit. Die Mutter meldet sich und die Szene hat trotz der mitfühlenden Worte so gar nichts Wärmendes. Erdrich schreibt zum Beispiel „Es sieht aus, als wüsste sie, dass ich hier bin.“ Für mich klingt das, als wolle die Schreibende irgendwo ihre Ruhe haben. Dazu hatte sie extra die Kamera am Computer abgeklebt; ein möglicherweise technisches Problem aber lässt die Lautsprecher offen. Wenn Erdrich außerdem die Stimme der Mutter als „triefend vor Wärme“ beschreibt, klingt das nicht sehr sympathisch. Es klingt nach einer künstlich emotionalisierten Pflichtfrage, als gäbe es dafür Bonuspunkte (wie das gute Verhalten, das in GRM belohnt wird).

„20. August“ … schreibt Louise Erdrich hier eine Art Tagebuch? Wie viel Zeit ist seit dem vorigen Abschnitt vergangen? Jedenfalls bestätigt sich der Eindruck, dass Schreiberin und Mutter kein gutes Verhältnis haben — was für ein schreckliches ist das denn, wenn es heißt „Den Computer habe ich nicht angerührt, seit er das helmhaarige Wesen heraufbeschworen hat.“ Sind das noch echte Menschen, um die es hier geht? Automatisch denke ich hier an einen Avatar, der die Mutter ersetzt oder ein Sozialleben imitieren soll (wieder drängt sich ein anderes Buch auf, dieses Mal Die Hochhausspringerin).

Der Hauptteil des weiteren Textes verstärkt den Eindruck des Versteckens, vor wem auch immer: Die Rolläden dicht, das Handy wird nur einmal pro Tag genutzt, ohne GPS. „Ich scrolle mich durch die Nachrichten, um mich zu schützen.“ Und dann auf einmal purzeln noch ein paar Details darüber herein, was hier los sein könnte. Krisensendungen im TV, wo Anzugmänner Ultraschallfotos von Föten begutachten. Anomalien, die sich auf kognitive Fähigkeiten auswirken können. Männliche Geschlechtsorgane reifen nicht richtig aus.

Hier fällt der Vorhang. Ich bin in einer Dystopie gelandet! Die Erzählerin weiß wahrscheinlich nicht, wie gesund ihr Baby auf die Welt kommen wird. Vielleicht versteckt sie sich sogar, weil Schwangere unter Beobachtung stehen und die Fantasie schlägt schon Purzelbaum: Werden gerade die Gesunden zu irgendwelchen Zwecken isoliert oder jene mit den sich häufenden Defekten? So sicher mir erscheint, dass das Buch ziemlich spannend und klug geschrieben sein dürfte, so sicher scheint mir auch, dass ich dafür einen halbwegs guten Zeitpunkt erwischen müsste. Vielleicht kommt er ja demnächst. Von Dystopien habe ich noch nicht genug.

Offenbar steigt der …

Das Buch

Louise Erdrich stand mit diesem Titel im April und Mai 2019 auf der Phantastik-Bestenliste.

Louise Erdrich – Der Gott am Ende der Straße
Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-03756-7
Originaltitel: The Future Home of the Living God
Erstveröffentlichung: 2017
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Gesine Schröder

„Open the book to page ninety-nine and read, and the quality of the whole will be revealed to you.“
Ford Madox Ford

Im angelsächsischen Raum kennt man den Page 99-Test gut; der Blog Page 99 Test widmet sich aussschließlich dieser Idee. Im deutschsprachigen Raum nutzt Tell das Ford’sche Konzept. Bleisatz erweitert auf zwei Seiten und nein, es ist keine Rezension. Es ist eine Momentaufnahme dessen, was ein Textfragement mit mir als Leserin macht — zu einem Zeitpunkt, an dem die Story fortgeschritten ist, die Personen längst eingeführt sind.

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