Welches Tier Sy Montgomery auch immer näher kennen lernt, die Naturforscherin lässt sich faszinieren. Ob Schwein, Oktopus, Schildkröte, Delfin, Huhn, Tiger, Tarantel oder Kondor: Sie begeistert sich für dessen ungewöhnliche Fähigkeiten. Montgomery trifft Expertinnen und Experten, befasst sich selbst über Wochen und Monate mit den Tieren und hilft füttern, retten oder begleitet Tierstationen bei ihrer Arbeit. Ihre Beobachtungen und Entdeckungen verpackt sie jeweils in ein Buch. Stets entstehen daraus aufschlussreiche Dokumentationen, die eine gut dosierte Mischung aus Erinnerungen und Sachbuch sind. Mit „Das Geschenk des Kolibris“ gilt ihre jüngste Expedition den kleinsten Vögeln des Tierreichs.
In den USA leben diese schillernden Vögel praktisch nur an der Westküste. Dort engagiert sich Montgomerys Bekannte Brenda Sherburn La Belle um die Aufzucht verwaister Kolibris. Eines Tages ergibt sich für die Naturforscherin die Chance, Brenda bei der Rettung zweier Allen-Kolibris zu unterstützen. Innerhalb weniger Tage ist sie vor Ort und übernimmt mit ihrer Gastgeberin den 20-minütigen Rhythmus, den die hungrigen Vogelbabys ihren Retterinnen vorgeben.
Sy Montgomery erzählt sehr lebendig davon, wie die folgenden Tage kurz nach fünf Uhr in der Früh beginnen. Die hummelgroßen Vogelbabys, die sie wegen ihrer filigranen Körper kaum berühren mag und deren Art zu Beginn noch nicht einmal bestimmt werden kann, sind ständig hungrig. Obgleich die Futtermengen freilich mickrig sind. Sie berichet ebenso detailliert wie fasziniert über als das Wissen, das sich Brenda in vielen Jahren angeeignet hat, um ihre Zöglinge flügge zu bekommen. Sie schreibt offen über kritische Tage und Milbenbefall. Und über den Grund, warum Wildrettungsstationen ihren Pflegekindern bis zum Auswildern in der Regel keinen Namen geben.
Filigrane Vögel, hohe Anforderungen
Auch die enge Zusammenarbeit der Stationen ist ein wichtiges Thema und die Problematik, wie wenig Helferinnen und Helfer es speziell für Kolibris gibt. Vögel an sich sind schon nicht so einfach aufzupäppeln wie Säugetiere. Kolibris sind mit ihren spezifischen Anforderungen nochmals eine eigene Kategorie. Es gibt wenig Interessierte, die sich an die aufwändige Hilfe wagen. Obwohl Brenda, wie Montgomery schreibt, inzwischen keine Küken mehr annimmt, erhält sie bis heute Anrufe aus dem gesamten Verbreitungsgebiet mit der Bitte um Tipps.

Dazwischen flicht Sy Montgomery immer wieder Anekdoten und Wissenswertes über Kolibris ein. Lange zum Beispiel hatte man keine Ahnung, wie diese Vögel über Kopf fliegen oder sich still in der Luft halten können. Der Flügelschlag ist für das menschliche Auge einfach zu schnell. Erst die Entwicklung der Slow-Motion-Kameras erlaubte eine Erforschung ihrer Flugtechnik. Oder sie erzählt von einem Kolibri, der sich auf eine Ölbohrinsel verirrt hatte und für den extra ein Hubschrauberflug zum Festland organisiert wurde.
Trotz ihrer zerbrechlich wirkenden, bunt schillernden Vielfalt und ihrer akrobatischen Flugkünste sind die Vögel untereinander weitaus weniger zartbesaitet. Ihr Flugstil erforderte eine für sie hohe Nahrungszufuhr – wehe also, ein andere Vogel kommt ihren Lieblingspflanzen zu nahe.
„Das Geschenk des Kolibris“ spielt nicht nur darauf an, dass Sy Montgomery die Tage der Aufzucht als Geschenk empfunden hat. Das Buch enthält zusätzlich zahlreiche Illustrationen, die die Vielfalt der farbenfrohen Vögel wiederspiegeln. Und in der Aufmachung des Verlags, der nicht auf das Diogenes-typische Design zurückgreift, sondern eine kleine Schmuckausgabe daraus macht, hat sich auch das Buch selbst als Geschenk herausgeputzt.
Bibliografische Angaben
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07193-1
Originaltitel: The Hummingbirds‘ Gift
Erstveröffentlichung: 2021
deutsche Erstveröffentlichung: 2024
Übersetzung: Stefanie Schäfer
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