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Sy Montgomery – Rendezvous mit einem Oktopus

Sy Montgomery – Rendezvous mit einem Oktopus

Die Naturforscherin Sy Montgomery weiß eigentlich eine Menge über Tiere. Sie hat Bücher über Vögel, Tiger, Schweine, Delphine und Bären veröffentlicht und war auf zahlreichen Expeditionen unterwegs. Über den Oktopus aber wusste sie jahrelang sehr wenig, sagt sie selbst. Allerdings, fügt sie an, ist dieses Wenige etwas, was wahnsinnig neugierig macht. Ein Oktopus hat Gift, einen Schnabel und Tinte — eine ungewöhnliche Mischung aus Werkzeugen im Tierreich. Es kann so schwer werden wie ein Mensch, fast so groß wie ein Auto, sich aber trotzdem durch eine Öffnung quetschen, die nicht größer ist als eine Orange. Obendrein sollen diese wirbellosen Tiere auch noch sehr intelligent sein. Wie aber soll das funktionieren bei einem Tier, das komplett anders organisiert ist als ein Mensch?

Um das herauszufinden, sucht Montgomery den Kontakt zu einem Aquarium und lässt sich von den Mitarbeitern mit Athena bekannt machen, einem etwa zwanig Kilo schweren Oktopus-Weibchen. Ab der ersten Begegnung ist Montgomery völlig begeistert und beginnt, mehr Wissen über diese Tiere zusammen zu tragen. Sie wird zur regelmäßigen Besucherin des Aquariums und dessen Mitarbeiter werden nicht nur zu wichtigen Ansprechpartnern, sondern gar zu Freunden.

Knutschen mit Oktopus

Sy Montgomery erzählt von Beginn an so intensiv von ihren Begegnungen, dass man als Leser sofort mit drinsteckt. Im Lauf des Buchs erzählt sie von drei Aquariums-Oktopoden im Besonderen und das geschieht so detailreich und begeistert, dass ich mir fast vorstellen kann, wie sich so ein Oktopus anfühlt. Es kann sich anfühlen, als werde die Haut geküsst (klingt wirklich angenehm, sofern man die Wassertemperatur des Bassins von knackigen 8° C ausblendet). Es kann sich aber auch anfühlen, als zupften Vakuumsauger an der Haut:

Während Octavia sich mit Hunderten ihrer Saugnäpfe an der Beckenwand festgeklebt hatte und mit Dutzenden weiterer Saugnäpfe die Zange festhielt, umschlang sie meinen linken Arm mit dreien ihrer Fangarme und meinen rechten mit einem vierten und fing an zu ziehen — richtig fest zu ziehen. … Ihre Saugkraft war so stark, dass ich spürte, wie sie mein Blut bis in die äußersten Hautschichten sog. Heute würde ich mit Knutschflecken nach Hause kommen.

Das Buch steckt voller solcher Anekdoten. Die ganzen Fakten rund um den Oktopus stecken dazwischen und die erzählerische Annäherung an dieses faszinierende Tier macht das Buch zu einem besonderen Lesegenuss. Montgomery wird bisweilen arg schwärmerisch, geradezu wie ein verliebter Teenager. Aber das fängt sich wieder in Zahlen und Fakten auf und zumindest für mich gilt, dass ich an solchen Passagen deutlich wacher werde.

Die Philosophie in der Tierforschung

Sehr aufschlussreich finde ich die Gedanken zu Persönlichkeit, Verstand und Emotionen. Immer noch weit verbreitet ist der Glaube, nur der Mensch könne denken, Individualität entwickeln oder Gefühle haben. Tierforscher aber sehen seit Jahrzehnten, dass es Varianten davon auch bei Tieren gibt. Schimpansen können bewusst täuschen, Elefanten trauern, Oktopoden können sich bestimmte Menschen merken und reagieren auf sie anders als auf andere.

Viele Forscher, so Montgomery, werteten Beschreibungen dieser Art als den Versuch, menschliche Verhaltensweisen in Studienobjekte zu projizieren. Dass die Studienobjekte selbst Lebewesen sind, sich und ihre Artgenossen organisieren, sich mit ihnen abstimmen müssen, wird dabei von den Beobachtungen getrennt. Hier folgt die Forschung einem veralteten Denkmuster, das sich nur langsam verändert. Mit Hilfe der Schilderungen von Sy Montgomery wird deutlich, dass gerade der menschliche Blick von oben herab auf andere Lebewesen die Grenzen des Vorstellungsvermögens nicht geweitet, sondern eher zementiert hat. Für das Verständnis für andere Lebens- und Organisationsformen wäre eine Änderung des Blickwinkels ganz hilfreich.

Wissensbuch des Jahres 2018
Kategorie Unterhaltung

Meister des Multitasking

Als Sachbuch profitiert „Rendezvous mit einem Oktopus“ sehr von der Mischung teils sehr persönlicher und teils sachlicher Bausteine. Die Begeisterung der Autorin ist mitreißend; immerhin lernt sie extra Tauchen, um mal einen Oktopus in freier Wildbahn beobachten zu können. Zugleich erarbeitet sie sich einen großen und erstaunlichen Wissensfundus, den sie mit den Lesern teilt. Ich wusste zum Beispiel nicht, wie schnell ein Oktopus die Farben wechseln kann. Wie einzigartig er sich selbst koordiniert, wenn alle Arme gleichzeitig gezielt verschiedene Dinge tun können. Das ist wirklich beeindruckend.

Oktopus-Literatur zählt nun wahrlich nicht zu den ausgetretenen Pfaden in der Sachbuch-Abteilung. Nicht zuletzt deshalb finde ich: Verabredet euch doch auch einmal zu einem Rendezvous mit Oktopus.

Bibliografische Angaben

Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-24453-3
Originaltitel: The Soul of an Octopus
Erstveröffentlichung: 2015
Deutsche Erstveröffentlichung: 2017
Übersetzung: Heide Sommer, Werner Schmitz

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