Wenn ich abends ins Bett gehe, wird es auch draußen ruhig. Manchmal maunzt noch eine Katze, gelegentlich fährt ein Auto vorbei. Ansonsten höre ich erst wieder Lebenszeichen am Morgen, wenn die Vögel mit Zwitschern anfangen. Den Fuchs im Park am Sonntagmorgen halte ich für einen Frühaufsteher. Dabei ist er wahrscheindlich gerade auf dem Heimweg und ich habe in der Nacht mehr verschlafen als nur ihn und die Fledermäuse, die ich kurz vor dem Zubettgehen noch zwischen den Häusern habe fliegen sehen. Sophia Kimmig erzählt in „Lebendige Nacht“ von all den Tieren, die in der Dunkelheit unterwegs sind. Wie sich zeigt, sind das nicht nur Fledermäuse oder Füchse, sondern sogar sehr viel mehr Tiere, als tagsüber unterwegs sind. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, obwohl zum Beispiel zwei Drittel aller Säugetiere nachts- und dämmerungsaktiv sind. Für viele nachaktive Tiere, vor allem bei Insekten, gibt es nicht einmal Namen, weil wir Menschen sie gar nicht erst wahrnehmen.
Bis jetzt jedenfalls. Kimmig erklärt zunächst einmal, wie sehr sich die Lebewesen in zwei Paralleluniversen aufteilen und wie sich Tiere „ausrüsten“, um nachts auf Nahrungs- oder Partnersuche gehen zu können. Gut so, dass Kimmig uns auf die Sprünge hilft, denn mit unserem Lebensrhythmus, der sich an die Helligkeit angepasst hat, sind wir für die Nacht auch alles andere als gut gerüstet.
Wer ist nachts unterwegs?
Fünf Tierfamilien stellt „Lebendige Nacht“ näher vor: Eulen, Fledermäuse, Waschbären, Nachtfalter und Bilche (eine Nagetierfamilie, zu der Siebenschläfer und Haselmaus gehören). Kimmig erzählt, wie sich die Tiere ernähren und orientieren. Welche Überraschungen deren Erforschung ergeben haben, sind kleine Highlights. Es gibt zum Beispiel Nachtfalter, die das Sonar von Fledermäusen erfolgreich stören können, um nicht gefressen zu werden. Und braun gefiederten Eulen geht es umgekehrt wie uns: Während wir bei Stromausfall den Vollmond bräuchten, um den Späti zu finden, machen sie in solchen Nächten weniger Beute als in dunklen.
Es gibt wenig, was ein Waschbär mit seinen langen, sensiblen Fingern nicht bedienen kann. Dazu können sie sich solche erlernten Fähigkeiten auch noch jahrelang merken.
Freilich ist das nicht alles. „Lebendige Nacht“ ist mehr als ein ausführliches Biologie-Buch. Kimmig befasst sich auch mit der Frage, warum sich viele Lebewesen überhaupt für ein Nachtleben entschieden haben und sie erklärt, warum die Dinosaurier eine tragende Rolle bei der Entscheidung gespielt haben könnten. Sie stellt Tiere vor, die sich selbst Licht machen können und welche, die viel mehr Farben sehen können als der Mensch.
Was macht der Mensch?
Tagaktive Lebewesen meiden die Nacht eher. Das kennen wir aus eigener Erfahrung. Nachts können wir uns nicht gut orientieren, könnten nichts ernten oder sammeln, und bleiben daheim. Und kommt eine Gefahr, wäre es praktisch jedes Mal zu spät, wenn wir sie bemerkten. Dabei ist der Mensch ein Lebewesen, der sich durch die Erfindung des Feuers selbst helfen konnte. Als unsere Vorfahren gelernt hatten, wie man Licht jederzeit erzeugen konnte, erweiterte das Arbeitszeiten und -wege.
Aber der verbesserte Umgang mit der Dunkelheit hat sich inzwischen zum Nachteil gewandelt – für Menschen (selbst, wenn es auf Anhieb nicht so aussieht) und vor allem für Tiere. Und auch das erläutert Sophia Kimmig ausführlich. Zwar gibt es einige, die nachts Laternenlicht für die Beutesuche zu Hilfe nehmen. Aber es gibt weitaus mehr Tiere, die der Überfluss unserer Nachtbeleuchtung in ernsthafte Gefahr bringt. Das reicht von Nachtfaltern, die bis zur tödlichen Erschöpfung um Lichter kreisen, bis zu verirrten Vögeln und Schildkröten, die sich nicht mehr am Mond und den Sternenbildern orientieren können.
Die gute Nachricht ist, dass die Bekämpfung von Lichtverschmutzung im Gegensatz zu vielen ökologischen Krisen in der Welt relativ leicht zu bewerkstelligen wäre.
Plädoyer zum Mitdenken
Ein Buch über die Natur ist längst nicht mehr möglich, ohne den Einfluss des Menschen mitzudenken – und zum Mitdenken einzuladen. Das gelingt „Lebendige Nacht“ auf eine ausgewogene Art. Jede der fünf Tierfamilien beispielsweise kämpft auf ihre Art mit den Lebensbedingungen, die von den Menschen dominiert werden. Die nächtliche Lichtverschmutzung ist dabei nur ein Aspekt. Die Einschränkung der Lebensräume ein mindestens ebenso großer. Kimmig zeigt anhand der Liste gefährdeter Tierarten, dass wir vor allem von nachtlebenden Arten kaum einschätzen können, ob und wie stark sie gefährdet sind. Der Mensch beeinflusst eine Umwelt, von der er viel zu wenig weiß.
Hier schafft Sophia Kimmig einen Brückenschlag zwischen einem unterhaltsamen Sachbuch, das uns eine vielfach unbekannte Tierwelt vorstellt, und einem profunden Zeugnis unserer Verantwortung für die Fauna um uns herum. Was tun wir, damit die „lebendige Nacht“ eine lebendige bleibt? Ein paar Ideen stecken zwischen den Zeilen, die wir gerade wissbegierig auf dem Lesesofa verschlungen haben.
Bibliografische Daten
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-27611-6
Deutsche Erstveröffentlichung: 2023