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Ist digitales Lesen Mist? Was die Stavanger-Deklaration wirklich sagt

Ist digitales Lesen Mist? Was die Stavanger-Deklaration wirklich sagt

Im Januar rappelte es gewaltig in der Bücherwelt und sie kommt auch nicht recht zur Ruhe. Über 100 WissenschaftlerInnen hatten die Stavanger-Deklaration (hier der Originaltext) herausgegeben, in der sie einige Ergebnisse ihrer Forschung zum digitalen Lesen zusammenfassten. Die zugehörige europäische Forschungsinitiative heißt E-READ (eine kurze Erklärung dazu findet ihr am Artikelende). Seither polarisiert diese Deklaration immens, denn sie benennt ein paar Schwierigkeiten bei der Umstellung von Papier auf Digital. Die Papieranhänger sagen jetzt selbstbewusst „wir haben’s ja immer schon gesagt“ und die Digitalbefürworter fühlen sich auf den Schlips getreten und wehren sich trotzig gegen die vermeintliche Miesmachung alles Digitalen.

Was steht in der Stavanger-Deklaration wirklich drin? Welche der beiden Parteien liegt „besser im Rennen“?

Na, wenn ich schon so frage …

Aufräumen der grundlegenden Missverständnisse

„Es geht ums Lesen“: Aktuelle Studien sagen, dass es bei narrativen Texten keinen Unterschied zwischen digitalen Texten und Papiertexten gibt. Die Stavanger-Deklaration bezieht sich also nur auf die Ergebnisse bei Lernprozessen (informational texts) und das ist ein wichtiger Unterschied. Nur beim Lernen, also dem gezielten Wissensaufbau, hat das verwendete Medium einen Einfluss auf zum Beispiel Merkvermögen und Prüfungsleistung (dem aktuellen Stand der Forschung zufolge).

„Stavanger warnt vor digitalem Lesen.“ Klares Nein. Zum Lesen siehe Abschnitt obendran. Liest man sich die Pressemitteilung genau durch, warnen die Forscher vor etwas anderem: Vor dem unüberlegten Austausch von Papier gegen Digitalangebot. Sie warnen nicht vor dem Austausch generell. Das hat Gründe, dazu nachher mehr.

„Die Stavanger-Deklaration ist pessimistisch und rückwärtsgerichtet.“ Auch diese Aussage stimmt leider nicht. Tatsächlich rückwärtsgerichtet wäre die Forderung, digitale Lerninhalte kurzerhand abzuschaffen, weil die Studien einen Nachteil von „digital“ gegenüber „Papier“ ergeben haben. Das tun die Forscher an keiner Stelle. Im Gegenteil, sie fordern dazu auf, digitale Lernangebote so zu verbessern, dass der aktuell existierende Gap geschlossen werden kann. Ist das pessimistisch? Denkt mal drüber nach.

Lest den Text genauer

An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie schnell Missverständnisse entstehen können. Dazu ein Ausschnitt aus der originalen Mitteilung. Was in diesem Satz meinem Eindruck nach praktisch alle gesehen haben ist das, was ich violett markiert habe.

Leser überschätzen sich und bei digitalem Lernen beobachtet man mehr Querlesen und weniger Konzentration. Die Schlussfolgerung lautet nun: „Sag‘ ich doch, da steht Digital ist schlecht.“ Prompt hatte das Digitale schon im zweiten Absatz quasi verloren.

Derselbe Satz hat aber noch einen anderen Bestandteil. Den markiere ich jetzt:

Das ist cool, fiel aber unter den Tisch. Das Lernen profitiert, wenn das digitale Angebot auf Bedürfnisse und Vorlieben zugeschnitten ist. Eigentlich verrät der Text hier schon einen Lösungsansatz für funktionierende digitale Angebote. Seht ihr es jetzt auch?

Ein bisschen anders ist OK

Was hier steht bedeutet in etwa das: Digital funktioniert etwas anders. Nur hat man das bisher nicht so wahrgenommen (oder wahrnehmen wollen, was auch immer) und jetzt sagt es einem jemand. Digitale Angebote funktionieren prima, wenn sie durchdacht sind. Das heißt im konkreten Fall, dass digitale Lernangebote nicht Eins zu Eins aus dem Printsystem übernommen werden können. Es heißt nicht, dass sie gar nicht angeboten werden sollen.

Mal ein Beispiel: Möchte ich heute nach Basel fahren, habe ich verschiedene Möglichkeiten. Motorrad, Zug, Auto. Jede Variante funktioniert, aber sie unterscheiden sich und ich muss mich anpassen. Sei es Sicherheitskleidung in dem einen Fall, ein Bahnticket im anderen oder die Parkplatzsuche mit dem dritten. Ankommen werde ich auf jeden Fall und verbieten tut es mir auch keiner. Ich habe zudem die Möglichkeit, nach gewissen Kriterien zu wählen. Habe ich viel mitzunehmen, ist ein Motorrad nicht das Wahre; muss ich noch etwas aufarbeiten, bin ich mit Zug besser bedient.

Beim digitalen Lernen ist es ebenso. Ich wiederhole: Niemand verbietet es oder rät davon ab. Wie es aussieht, funktioniert digitales Lernen aus irgendwelchen Gründen teilweise anders und danach muss man sich richten. Wie das konkret aussieht, ist wieder etwas anderes (ups, da steht dieses Wort schon wieder …).

Vom Lesen profitieren wir persönlich und emotional

Was da so schön fett prangt, ist nichts Neues. Dazu gibt es eine Reihe von Studien und nicht umsonst gibt es sogar Lesetherapien. Neurowissenschaftler lieben sowas und forschen darüber, wie Lektüre auf uns wirkt. Die Forschungsgruppen von E-Read wissen das auch:

Research also indicates that reading has effects beyond the ones we consciously pursue when reading for entertainment, learning, and finding information. Given a reading diet of appropriate length and complexity, reading has the potential to foster mental focus, patience and discipline, offers emotional and aesthetic experiences, increases linguistic knowledge and enhances economic and personal well-being.

Was aus dem Abschnitt in der Wahrnehmung übrig bleibt, ist der letzte Satz, den ich jetzt anhänge:

Skimming texts doesn’t bring such benefits.

Was interpretiert wird: Vom digitalen Lesen profitieren wird nicht. Was hier wirklich steht: Vom Texte überfliegen, unfokussiert Lesen bzw. Querlesen profitieren wir nicht.

Im Wesentlichen geht es bei der Forschung gerade zu Lesetherapien oder emotionalen Effekten um narrative Texte, um Belletristik. Darin versinkt der Leser, die Szenen werden im Kopf verarbeitet und das wiederum löst die unterschiedlichen und bekannten Vorteile aus. Daraus leitet sich der erste Knackpunkt ab: Die Stavanger-Deklaration stellt das nicht in Frage.

Der zweite Knackpunkt ist: Die Deklaration benennt das oberflächliche Lesen als problematisch. Nicht das digitale Lesen. Wer ein Buch auf diese Weise überfliegt, wird auch in der Papierversion sicher nicht profitieren, weil er nicht „eintaucht“.

Dramatische Wendungen erwarten uns — oder auch nicht

Aus dem letzten Abschnitt der Mitteilung wird die Schwarzmalerei ganz besonders gerne abgeleitet. Hier ist der volle Wortlaut und violett ist das, was wahrscheinlich am meisten Eindruck hinterlassen hat:

Das ist die Passage, die sich zum Vorwurf der Voreingenommenheit zu eignen scheint (hier zum Beispiel). Dazu unbedingt als Grundlage: Gute und unabhängige Wissenschaft sucht nicht nach „Kausalitäten, die dem eigenen Weltbild entsprechen“. WissenschaftlerInnen müssen mit jenen Ergebnissen klar kommen, die sie erhalten. Und da hat man nicht immer das „Glück“, dass die Ergebnisse so ausfallen, wie man sich das vielleicht wünscht oder wie man das erwartet. Forschung im beschriebenen Umfeld beobachtet Phänomene und kann erst hinterher überlegen, warum die Ergebnisse so ausfallen wie sie ausgefallen sind.

Zurück zum Text: Die Mitteilung sagt natürlich, dass weiter geforscht werden soll, weil viele Details noch unklar sind oder weil neue Fragen aufgekommen sind. Klar, sonst wären hier keine WissenschaftlerInnen am Werk.

Kommen wir zum markierten Teil. Der leitet sich aus den Ergebnissen der Forschungsarbeiten ab. Die haben (siehe oben) ergeben, dass es eine so genannte „screen inferiority“ gibt, dass also digitales Lernen aktuell gegenüber dem papierbasierten Lernen benachteiligt ist. Die Mitteilung bittet um Vorsicht beim Wechsel von gedruckten zu digitalen Lerneinheiten. Sie sagt aber auch ganz klar, dass es besonders um „indiscriminate swaps“ geht, also um wahllose und unüberlegte Wechsel und dass sich Lehrpersonen über die Unterschiede in der aktuellen Lehrsituation bewusst sein sollen. Wie oben schon geschrieben, funktioniert Digitales offenbar anders und wer das kapiert und umsetzt, ist einen wichtigen Schritt weiter.

Was unmarkiert vor diesem „Drama“ steht, ist ganz wichtig! Die ForscherInnen wollen „properly manage the digital transformation“. Sie wollen digitale Angebote sehr wohl umsetzen, nichts stoppen, sondern einfach solide Arbeit haben. Das ist keinesfalls zu viel verlangt und doch eigentlich genau das, was wir von Anbietern digitaler Tools jedweder Art mit großer Selbstverständlichkeit nicht nur erwarten, sondern auch erwarten dürfen.

Warum die Stavanger-Deklaration zukunftsfähig ist

Wir kommen an dieser Stelle wieder zurück an den Anfang des Artikels und der Stavanger-Deklaration. Erinnert ihr euch noch an die folgende Textstelle?

… comprehension may benefit when digital text presentation is properly tailored to an individual’s preferences and needs …

Kombiniert mit dem Schlusssatz, in der von carefully developed digital learning tools and strategies die Rede ist, wird plötzlich ein Schuh daraus: Was die Forschung hier an die Hand gibt, sind nichts anderes als die Grundlagen, auf deren Basis die Entwicklung guter digitaler Lernmaterialien möglich ist und die künftige Arbeit damit besser gestaltet werden kann.

Die Stavanger-Deklaration bildet die aktuelle Lehrsituation ab (und übrigens auch nur einen Teil der ganzen E-Read-Forschung). Dass es eine screen inferiority gibt, könnte unter anderem daran liegen, dass die digitalen Lernmaterialien noch nicht angemessen konzipiert sind oder anders eingesetzt werden sollten. Es gibt Hinweise darauf, dass noch nicht alle Einflussgrößen bekannt sind oder dass bekannte noch nicht ausreichend berücksichtigt werden. Genau an diesen Stellen setzen die zahlreichen Forschungsansätze an: Um Lücken zu schließen. Genau damit werden künftig digitale Lehrangebote perfektioniert und die screen inferiority platt gemacht (Spoiler: es gibt jetzt schon bekannte Umfelder, in denen sie ziemlich zu vernachlässigen ist). Und das ist doch etwas, was wir wollen, oder?


Exkurs: Was ist E-READ?

Das Kürzel E-Read steht für Evolution of reading in the age of digitisation. Diese Initiative forscht europaweit über dein Einfluss der Digitalisierung. Sie will zum Beispiel verstehen, was bei Digitalisierung verschiedener Prozesse passiert oder warum etwas passiert und entsprechende Daten sammeln.

Kennt man spezifische Phänomene und kann sie im Idealfall erklären, profitieren eine Vielzahl von Menschen. Das ist auch ein erklärtes Ziel von E-Read: Die Beratung von Nutzern, Entscheidungsträgern, Herausgebern und Entwicklern auf Basis belastbarer Fakten, damit digitale Angebote bestmöglich konzipiert und angewendet werden können.

Um die unterschiedlichen Bereiche aufzufangen, gibt es vier Forschungsschwerpunkte:

  1. Continuing/skilled (PISA-age) reading
  2. Developmental aspects of reading
  3. Experiential and emotional aspects of reading
  4. The ergonomics of reading (physiology; haptic & tactile feedback)

Foto: Tim Gouw / unsplash

5 comments

  1. Schön, dass es immer wieder Menschen gibt, die die Studien tatsächlich lesen und nicht einfach nur ein paar Schlagzeilen rezitieren und damit die Aussage der Stuide verschleiern. Es hatte tatsächlich den Anschein, als wenn die Medien die Ergebnisse unreflektiert aufgegriffen haben, um auch mal etwas gegen den Digitlaisierungstrend zu sagen.

    Es ist schade, dass unter Digitalisierung oftmals einfach nur eine simple Konvertierung eines Prints in eine digitale Textform verstanden wird. Was bei einem Roman funktioniert, ist für eine Lernplattform ungeeignet. Das sollte eigentlich der Kern der Aussage sein: Digitalisierung der Bildung heißt nicht, einfach nur die Prints als PDF in einem Tablet zu zeigen. Dass das nicht funktionieren kann, sollte eigentlich klar sein … eigentlich.

    Leider möchten vor allem in Deutschland die Menschen kein Geld für digitale Lerninhalte ausgeben und es herrscht noch immer die Gratis-Gedanke vor. Sobald etwas am PC oder Tablet erlebt wird, muss es kostenfrei sein. Schade, denn so sind die wirklich guten E-Magazine vom Markt verschwunden und dort herrscht der stupide PDF-Gedanke vor.

    Ich fürchte, dass sich da in naher Zukunft wenig ändern wird und die Lerninhalte weiterhin sehr stupide und wneig innovativ umgesetzt werden …

    Viele Grüße
    Der Büchernarr Frank

    1. Bettina Schnerr says:

      Hallo Frank,

      vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Ich sehe es wie du: Das eine System einfach in ein anderes kippen, das kann nicht gut gehen; das hätte man durchaus ahnen können.

      Ohne digitale Elemente kommen wir in den unterschiedlichsten Lebensbereichen nicht mehr weiter, der Schritt zurück wird sicher nicht gemacht. Umso wichtiger ist es, die digitalen Angebote ordentlich zu machen. Schließlich müssen wir künftig alle damit arbeiten und dafür müssen sie einfach solide sein (was nicht heißen soll, dass es grundsätzlich daran mangelt). Für die Forschung bin ich insofern dankbar, weil sie allfällige Defizite aufdecken und damit behebbar macht.

      Was den Gratisgedanken angeht: Es gibt ein Forschungsprojekt, über das bisher leider wenig zu finden ist. Dort wird die „Aura“ der verschiedenen Medien untersucht. Dabei geht es um die Frage, wie „wertig“ Bücher gegenüber Tablets oder Readern wahrgenommen werden. Sowas finde ich aus Marketingsicht sehr spannend, weil da genau solche unterbewussten Details reinspielen: Habe ich etwas in der Hand? Wie ist die Optik? Das spielt bei Preisgestaltung durchaus eine Rolle. Vielleicht ergeben sich da auch Ansätze, wie man digitale Angebote „wertiger“ hinbekommen kann.

      Ist der Gratis-Gedanke in anderen Ländern nicht so stark wie in Deutschland?

      Viele Grüße,
      Bettina

      1. Hallo Bettina,

        tatsächlich gibt es diesen Gratisgedanken in anderen Ländern nicht. Vor allem im englischsprachigen Raum wird für Gott und die Welt via Abo gezahlt. Guter und unabhängiger Journalismus kann sich einfach nicht selbst finanzieren. Aber das ist ein anderes Thema 😉

        Ich merke es (leider) am Schul-Angebot meiner Kinder, wie wenig digital der Unterricht gestaltet wird. Oftmals werden in Deutschland die Lehrer vergessen, wenn es um die Digitalisierung geht.

        So ein Forschungsprojekt, dass die Haptik mit der Wertigkeit eines Produkts in Verbindung bringt, ist sicherlich spannend. Vielleicht findest Du ja noch mehr darüber heraus 🙂

        Viele Grüße
        Frank

  2. Peter Delin says:

    Lesetipp für die Autorin dieses Artikels: http://blogs.publishersweekly.com/blogs/shelftalker/?p=29006

    1. Bettina Schnerr says:

      Hallo Peter,

      vielen Dank für deinen Link, habe ich mit Interesse gelesen. Zum Leseerwerb gibt es wirklich sehr schöne Artikel.
      Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch mit einem weiteren Missverständnis aufräumen: Die Stavanger-Deklaration hat mit dem Leseerwerb der Kleinsten nichts zu tun. Mein Artikel klärt darüber auf, was in der -> Deklaration <- steht. Da sind mehrere Missverständnisse im Umlauf, aus welchen Gründen auch immer.

      Die Leseförderung für die Kleinsten, das Lesen lernen etc, ist nicht Thema der Deklaration und ich wage zu behaupten, dass die Forscher ziemlich genau wissen, welche Faktoren für den Leseerwerb bedeutend sind und dass "digital" hier an der verkehrten Stelle eingesetzt wäre. Es geht in der Deklaration um das Lernen und Fakten bearbeiten und vor allem in Altersstufen, wo der grundlegende Leseerwerb bereits stattgefunden hat.

      Viele Grüße
      Bettina

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