Philipp Gurt – Mord im Bernina Express

Ungefähr da, wo ich vor zwei Jahren an Lej Nair und Lago Bianco umherwanderte, stirbt bei Philipp Gurt eine Frau im Bernina-Express auf der Fahrt ins Puschlav. Der Zug wird gestoppt und die Polizistin Corina Costa wird von ihrem Hof bei Pontresina geholt, damit sie auf der Passhöhe zusteigen und ermitteln kann. Prompt hat sie einen Passagier an der Backe kleben, der ihr unbedingt helfen möchte – ein BKA-Beamter und er lässt einfach nicht locker. Schön blöd, dass ausgerechnet der schon bald mit im Boot sitzt, als die Ermittlungen gemeinsam mit Deutschland geführt werden müssen. Denn die Tote stammt aus München und ist Altenpflegerin. Wer könnte so einer Frau nach dem Leben trachten?
Costa ist für meine Begriffe das weibliche Pendant zu Massimo Capaul. Das, was ein Verlag im Klappentext gerne „verschroben“ oder „eigenwillig“ nennt. Die Polizistin bei der Kantonspolizei Graubünden hat ein fast schon „niemals“ aufgeladenes Diensthandy und kein Auto. Liebe Autorinnen und Autoren, lasst das bitte künftig einfach. Es gibt zuhauf Stories, die ziemlich an den Haaren herbeigezogen sind (diese hier gehört schon ein wenig dazu) – da muss man nicht auch noch auf Biegen und Brechen komische Figuren schaffen. Der Technik nicht allzu aufgeschlossene Zeitgenossen gibt es, ich weiß. Aber dass die sich bei der Polizei häufen, sieht inzwischen nach einer Standardmethode aus, um die Story aufzumotzen. Gibt es eine uns Leserschaft noch unbekannte Checkliste, in der Krimiautor:innen sowas abhaken müssen?
Zurück zum Fall: Ein bisschen zuviele ausschmückende Adjektive, ein bisschen viel Verschwörungstheorien. Eine so große Nummer als Motiv hinter einem Verbrechen aufzuziehen, empfinde ich als ziemlich riskant. Zumal dann, wenn der Bogen nicht ganz bis zum Ende trägt und die Story zu verpuffen scheint. Je nun, ich war trotzdem einen Nachmittag gut unterhalten, habe mich an meine eigene Wanderung zurückerinnert und werde – Adjektivflut hin oder her – vielleicht auch noch den St. Moritzer Mord noch lesen. Fall 2 für Corina Costa. Den schönen See dort habe ich schließlich auch schon umrundet.
Verlag: Oktopus bei Kampa
ISBN: 978-3-311-30044-1
Erstveröffentlichung: 2024
Raymond Queneau – Zazie in der Metro

Zazie steht seit geraumer Zeit auf der Wunschliste – die Geschichte eines 10-jährigen Mädchens, das beim Onkel unterkommt, damit die Mutter sich mit einem Liebhaber treffen kann. Die Auszeit kommt Zazie gerade Recht, denn so hat sie hoffentlich endlich die Gelegenheit, Metro zu fahren und sich einen Traum zu erfüllen. Doch just da wird die Metro bestreikt.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Roman nicht wahnsinnig ein Kind seiner Zeit ist. Angekündigt als verspielt, als Bilder-Explosion nach Pop-Art-Manie. Und das ist, was ich nicht wirklich nachvollziehen kann. Ja, der Roman hat eine unglaubliche Häufung an Slang und Wortspielen, die den Übersetzern teils nächtliche Kopfschmerzen bereitet haben dürften. Aber Zazie ist einfach eine unwahrscheinlich freche, unverschämte und derbe Göre ohne Charme. Ich bin mir nicht sicher, ob der Film-Trailer da nicht völlig falsche Erwartungen weckt.
Doch was mir aus der ersten Buchhälfte vordringlich bleibt, ist die große Selbstverständlichkeit, mit der dieser Roman von sexuellen Übergriffen auf Kinder erzählt. Zazie scheint schon betatscht worden zu sein und weiß wohl, wie man sich rechtzeitig zur Wehr setzt. Nicht umsonst schickt die Mutter sie zum Onkel, weil offenbar auch schon ihre eigenen Liebhaber dachten, das Kind gehöre irgendwie „dazu“. Der Onkel ist als Revue-Tänzer in dieser Hinsicht über jeden Zweifel erhaben. Im Gegenzug spielt Zazie ihre Unbefangenheit aber auch aus. Sie lässt sich von einem wildfremden Mann Jeans auf einem Flohmarkt kaufen, um ihm das Paket später abzuluchsen und sich davon zu machen. Zugleich hat sie von Sexualität eigentlich gar keine Ahnung. Ein Mädchen, das bislang mit viel Glück unbeschadet durch eine übergriffige Männerwelt durchgekommen ist.
Die zweite Hälfte des Buchs empfand ich noch viel mehr als heilloses Chaos als die erste. Irgendwelche Touristen verehren Charles (völlig absurd), nehmen ihn halb verliebt als Fremdenführer mit zu einer Kirche. Eine wildfremde Frau nimmt sich deswegen Zazies an, flirtet mit einem Polizisten, der sich als verkleideter Gauner herausstellt, irgendwer taucht mit Maschinengewehren auf (ernsthaft?) und in einem Anhang gibt es Teile aus früheren Romanfassungen, in denen die Metro nicht streikt. Ähn, worum ging es hier eigentlich nochmal?
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-426-30460-0
Originaltitel: The cruelest month
Erstveröffentlichung: 2007
Deutsche Erstveröffentlichung: 2009
Übersetzung: Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck
Peter Swanson – Neun Leben

Noch einmal Kampa, dieses Mal mit einem Krimi aus den USA. Neun Menschen erhalten einen Brief, auf dem neun Namen stehen. Sonst nichts. Acht Namen, die sie nicht kennen, sowie ihr eigener. Der eine wird von der Ehefrau des Fremdgehens beschuldigt, ein anderer wirft den Brief weg, ein dritter hofft, das sei eine Castingauswahl für Songwriter. Eine der neun Personen ist FBI-Agentin und die wird umgehend misstrauisch. Umso mehr, als die erste Person auf dieser Liste tatsächlich kurz darauf ermordet aufgefunden wird.
Es gibt bei dieser Konstellation nur zwei Möglichkeiten: Entweder eine Racherunde à la „Und dann gabs keinen mehr“ oder eine Tarnung à la „Die Morde des Herrn ABC“. Eine Idee, die nicht nur ich hatte – beide Bücher (und noch viele mehr) werden im Krimi referenziert. Die Frage ist nur, warum ausgerechnet diese Leute gewählt wurden. Bei keinem gibt es irgendwelche Zusammenhänge. Erst eine verschüttete Erinnerung bei der FBI-Agentin bringt die Recherche auf eine neue Spur. Aber wie es so ist, das ist mühsam, auch nicht sofort zielführend und in der Zwischenzeit sterben die nächsten. Ein absolut netter Krimi für einen Sonntagnachmittag. Vor allem interessant zu sehen, wie der Mörder sich irgendwann am Polizeischutz vorbeimogeln muss, den die Ermittler für die verbliebenden Personen eingerichtet haben.
Es gibt Krimis, denen ich eine künstliche Konstruktion nicht übel nehme und andere, bei denen ich sie übermäßig finde. Hier hat sich vor allem gegen Ende die zweite Variante breitgemacht. Ein bisschen sehr an den Haaren herbeigezogen und unglaubwürdig.
Dafür ein „unnützes Wissen“ zum Schluss, das eine Frage aufwirft: Ich habe mich immer gefragt, warum bei „neun“ Leben eine Katze auf dem Cover ist. Sie hat doch nur sieben, oder? Es stellt sich heraus, dass Katzen im englischsprachigen Raum tatsächlich zwei Leben mehr haben als im deutschsprachigen. Allerdings hat just die englische Ausgabe keine Katze darauf. Warum also hier, wo Optik und Sprichtwort nicht zusammenpassen?
Verlag: Oktopus bei Kampa
ISBN: 978-3-311-70404-1
Originaltitel: Nine Lives
Erstveröffentlichung: 2022
Deutsche Erstveröffentlichung: 2023
Übersetzung: Fred Kinzel
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