Sibylle Berg – GRM. Brainfuck

von Bettina Schnerr
5 Minuten Lesezeit
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Willkommen in Rochdale, UK. Was schief gehen konnte, ist schief gegangen. „Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert.“ Das heißt, alles ist voller Roboter, die Arbeitsplätze runinieren. Das heißt, irgendwo müssen die Leute nun hin oder irgendetwas machen. Einige wenige schaffen es, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Allen anderen, und das ist die überwiegende Mehrheit, zerschrappt die Langeweile das Gehirn. Es boomen Reality-Formate, in denen das Leid der Abgehängten zur Primetime-Unterhaltung wird. Rochdale ist eine der Städte, wo die TV-Crews nicht lange nach Kulissen suchen müssen. Eine Flucht soll Grime sein, wohl das titelgebende GRM, das ähnlich zu funktionieren scheint wie TikTok. Die Aussichtslosigkeit dominiert den Alltag so sehr, dass fundamentale Sachen nicht mehr klappen. „Familie“ zum Beispiel. Eltern kümmern sich nicht mehr um die Kinder, irgendwelche Drogen sollen über den Tag helfen. „Liebe“ ist schon länger etwas, mit dem man in England nichts mehr anfangen kann.

Vier der vernachlässigten Kinder aus Rochdale sind Don, Karen, Peter und Hannah. Nach einer Odyssee von Gewalterfahrungen und Vernachlässigung machen sie sich auf den Weg nach London und hoffen auf Besserung.

Weiß jemand, was Hoffnung ist?

Sibylle Berg drückt von Beginn auf’s Tempo und geht bis zum Schluss nicht vom Gas: 633 Seiten lang ein Dauerfeuer aus Technologien, Überwachung, Demütigung, Gewalt und allen Auswüchsen, die sich aus Automatisierung, Klimaproblemen, Migration, nationalistischer Politik, Naivität … ergeben (habe ich was vergessen?). Eine Art „Normalität“ gibt es für kaum noch jemanden, es sei denn, man akzeptiert die Exzesse und die Leere als das neue „normal“. In Rochdale tun das meisten; es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.

Sprachlich geht es mit auf’s Ganze. Jeder, der zum ersten Mal auftaucht, wird mit ein paar Zeilen aus einem Überwachungsprotokoll eingeführt. Sätze brechen ab, -. Ach egal. Der Name dessen, um den sich der nächste Abschnitt im Westenlichen dreht, taucht grundsätzlich in einer eigenen Zeile im Fettdruck auf, egal, wie der zugehörige Satz dazu aussieht. Auch die künstliche Intelligenz kommt zu Wort.

EX 2279
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(S. 401; „Wer AI versteht, hat den Heiligen Gral gefunden„, schreibt Berg). Die Wahl der Sprache, die scheinbare Beliebigkeit im Satzbau verstärkt die chaotischen Zustände.

Wohin man kommt, herrscht Sinnlosigkeit. Wem alles egal ist, der lässt sich politisch leicht manipulieren. Daraus speist sich leider auch sinnlose Gewalt, vorrangig gegen Frauen und Kinder. Vor allem Frauen, denn die sind an allem Schuld. Was freilich nicht stimmt, aber irgendeinen Grund muss man finden, wenn man sonst nichts zu tun hat und zu Frauen gesellen sich Obdachlose und Ausländer — nanu, das kennen wir doch irgendwoher? Die Arbeitsbedingungen sind grausig, die finanzielle Basis ist äußerst dürftig. Wer sich kaum noch was leisten kann, mietet wie zu besten Industrialisierungszeiten im alten England stundenweise eine Couch bei Leuten, für die zumindest ein Zimmer oder eine Wohnung drin ist.

Zählt das als Dystopie?

Während des Lesens hatte ich ständig Berg selbst im Kopfkino vor mir, wie sie Interviews gibt und pointiert gegen Politik, Wirtschaft oder Schwächen stichelt. Die Dokumentation des SWR heißt doch nicht umsonst „Wer hat Angst vor Sibylle Berg„, oder? Das ganze Buch ist eine erbarmungslose Stänkerei gegen das, was aus der Perspektive von Berg politisch und wirtschaftlich schief läuft. Der Klappentext warnt: „Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben. Heute.“

Die Bewohner des Landes zahlten Abgaben für den Fall, dass sie irgendwann auf Sozialleistungen, Invalidenrente, Arbeitslosengeld, Krankengeld, Rente angewiesen sein würden, der Staat leitete die diese Gelder an private Unternehmungen weiter, die den Großteil des Geldes für ihre sogenannte Infrastruktur verwandten, um am Ende bei der Auszahlung der Gelder, der Instandhaltung der Sozialgebäude, der medizinischen Versorgung, der Krankentransporte Bedürftiger und den Rentenzahlungen zu sparen und für die Anleger profitabel zu wirtschaften.

Den Eindruck einer Dystopie hinterlässt GRM wirklich nicht. Der Roman überspitzt das, was sich heute teils schon zuträgt; Sibylle Berg lässt das Fass einfach nur gnadenlos überlaufen. Das schlechte Gesundheitssystem? Ein bisschen ärger geht’s schon noch. Die Automatisierung? Ist noch lange nicht ausgereizt und Berg frühstückt fein säuberlich die Konsequenzen der Unterbeschäftigung zu Ende. ADHS? Die Gesellschaft verträgt noch ein paar tausend Diagnosen mehr, die Pharmaindustrie verdient. Die Selbstoptimierung? Läuft viel besser, wenn der Staat mit Überwachung eingreift. Wer sich brav einen entsprechenden Chip implantieren lässt und seine Sollwerte erbringt, wird mit einem Grundeinkommen beglückt. Erinnerungen werden wach an Die Hochhausspringerin, die im Gegensatz zu Berg richtiggehend harmlose Visionen entwickelt hatte.

Ein Text im Schleudergang

Ich behaupte, GRM hätte 200 Seiten kürzer sein können (ich sehe Berg gelangweilt den Kopf schütteln). Ich behaupte auch, das Buch hätte den Titel GRM nicht gebraucht. Viel besser trifft es der Untertitel Brainfuck und die vermutlich titelgebende Musik-App GRM/Grime spielt eigentlich keine Rolle, jedenfalls keine solche, die den Titel rechtfertigt hätte. Nun gut, grime lässt sich mit Schmutz übersetzen. Schafft man jedoch das Buch in voller Länge, klingt Schmutz viel zu harmlos für die Gewaltorgien und die Sinnentleerung, die einem das Buch gerade um die Ohren gehauen hat.

Apropos, denkt Hannah, die Geschichte der Menschheit ist eine Abfolge ständiger Verachtung, Abwertung und Grausamkeit.

Sibylle Berg - GRM. Brainfuck

Die Unmenge an Gewalt ist das Eine, was vom Buch bleibt. Es hilft nicht viel, dass die Frauen und Kinder, denen hier Unsägliches angetan wird, völlig abgestumpft sind. Wir Leser sind es nicht. Das Andere, was bleibt, ist der Eindruck, dass das komplette Buch eine lange, bissige Wutrede ist. Berg ätzt in Romanform gegen den Neoliberalismus in all seinen Auswüchsen. Praktisch funktioniert das Buch schon fast als politisches Manifest (das passt für mich durchaus zur Privatperson Berg, die sich in der Schweiz zum Beispiel nachdrücklich gegen Versicherungsspione eingesetzt hatte).

Favoritin für den Schweizer Buchpreis

Ist das auch der Grund, warum GRM auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis gelandet ist? Wegen seiner Mischung aus sprachlicher Wucht und tagesaktuellem Sprengstoff? In der Schweizer Literaturszene wurde vermutlich noch nie so rasend gegen gesellschaftlichen Zustände und wirtschaftliche Verknüpfungen angeschrieben.

In der Handlung passiert das eine oder andere, im Wesentlichen aber quetscht GRM genüsslich alles so aus, wie es auf Basis der aktuellen Verflechtungen schief gehen könnte. Etwas Nettes kommt im Buch nicht vor.

Das Buch brainfuckt auf gesamter Länge, sodass der Leser sich am Ende fühlt, als sei er ziemlich schwindelig aus einem Hochgeschwindigkeitskarussell geflogen. Oder aus einem der Virtual Reality-Räume, die in diesem London so arg im Kommen sind. GRM als kleine Horrorprogrammierung dafür. Man wird sich nach der Lektüre noch eine Weile sortieren müssen.

Bibliografische Daten

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-426-05143-8
Erstveröffentlichung: 2019

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