Fünf Titel sind erneut im Rennen als Antwort auf diese Frage: Wer schrieb das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk in diesem Jahr? In Frage kommen diese Werke (die Links führen direkt zur Kurzvorstellung hier), die von der Jury als überraschend und eigenwillig empfunden werden:
- Simone Lappert – Der Sprung
- Tabea Steiner – Balg
- Alain Claude Sulzer – Unhaltbare Zustände
- Ivna Žic – Die Nachkommende
- Sibylle Berg – GRM. Brainfuck
Die fünf Titel im Überblick
Präzise 71 Titel aus 45 Verlagen standen im Vorfeld zur Auswahl (im Vorjahr waren es 85). Geschrieben wurden sie, laut Reglement, von SchweizerInnen oder in der Schweiz lebenden AutorInnen. Dabei finden sich in diesem Jahr keine Überschnitte mit der Longlist oder Shortlist zum Deutschen Buchpreis, wie das im letzten Jahr mit Gianna Molinari noch Der Fall gewesen war.
Während man sich beim Deutschen Buchpreis in diesem Jahr tragischerweise schon anhören musste, zu viele Debüts werteten den Preis ab und seien keinesfalls repräsentativ für das literarische Schaffen, sehen die Schweizer das erfreulicherweise entspannter. Im letzten Jahr waren zwei dabei, in diesem Jahr wieder und es steht offenbar mehr die Spannbreite im Mittelpunkt als eine Pflichtwürdigung jener, die schon lange dabei sind und die deshalb quasi dran sein müssten (aber bitte abwarten, was bei der Preisverleihung dann passiert).
Simone Lappert – Der Sprung
Irgendwo im Schwarzwald spielt „Der Sprung“; Kulisse bietet eine mittelinteressante Kleinstadt. Dort steht eines Tages Manu auf einem Hausdach und scheint springen zu wollen. Das bringt den Ablauf im Städtchen gewaltig durcheinander.
Finn zum Beispiel, ein Fahrradkurier, entdeckt Manu bei einer seiner Fahrten plötzlich auf dem Dach. Er verpatzt eine wichtige Lieferung und zittert vor dem Haus mit ihr, denn Manu ist seit Kurzem seine Freundin. Bei einem Gespräch mit der Polizei begreift er, wie wenig er trotz seiner Begeisterung für diese Frau von ihr weiß. Nicht einmal den Nachnamen kennt er. Manus Schwester Astrid wiederum steckt im Wahlkampf. Einerseits will sie helfen. Andererseits ist sie nicht wahnsinnig erpicht darauf, mit einer „Spinnerin“ in der Familie auf die Titelseiten zu kommen.
Bei insgesamt zehn Personen, von der jungen Schülerin Winnie bis hin zum Obdachlosen Henry oder dem pensionierten Hutmacher Egon, bringt Manus Tag auf dem Hausdach das Leben durcheinander. Er leitet die Menschen in ungewollte Bahnen oder zwingt sie zu Alternativen. Dazwischen schiebt sich der schäbige Wahnsinn: Passanten, die das Schauspiel verfolgen, als sei es ein harmloser Kinofilm und die sich allen Ernstes „unterhalten“ fühlen.
Leben heißt bleiben und ertragen, dass alles irgendwann verschwindet. […] Leben heißt zurückbleiben hinter den Dingen, den Erwartungen, den Menschen. Besser du fängst früh genug damit an, gut darin zu werden. Wenn du gut leben willst, musst du ein verdammt guter Verlierer sein.
Der Roman bietet ein großes „Geschichtenmosaik“, wie die Jury schreibt. Dabei sind zehn parallele Erzählstränge gar nicht so locker zu verfolgen gewesen, denn jeder der zehn bringt eigene Bekannte ins Spiel. Und bei so einigen trägt Lappert manchmal unnötig dick auf. Im Einzelfall durchaus realsitisch, in der Masse ganz schön üppig. In der Summe aber ist der Roman ein dichtes und durchaus tragfähiges Gewebe, das weniger eine denkbare Realität abbildet als vielmehr seinen Figuren einen Rahmen gibt, sich zu verändern. Manche trifft ein kleines Glück, manche müssen ein wenig dorthin geschubst werden.
Tabea Steiner – Balg
Antonia und Chris ziehen auf’s Dorf. Das erscheint dem Ehemann ganz praktisch, da dort Antonias Mutter lebt, die sich um den kleinen Timon kümmern könnte. Dann könnte Antonia einem Beruf nachgehen, während er als Selbständiger sowieso arbeiten kann von wo aus er möchte. Doch das Bild vom Dorfidyll erweist sich als ein harter Aufschlag auf betonhartem Realitätsboden. Das Kinderhaben ist sich weitaus schwieriger als erwartet, weshalb sich Chris aus der Erziehung sehr schnell rausnimmt. Zudem läuft es beruflich für ihn schlechter, seit er nicht mehr von der Stadt aus arbeitet. Zu allem Überfluss trifft die Isolation von ihrem Umfeld besonders Antonia äußerst hart. Statt Familie, Beruf und Bekannte bleibt ihr nur noch das Kind, auf das sie umso stärker fixiert wird.
Die Trennung des Paares kommt fix. Er geht zurück in die Stadt. Sie bleibt, engültig mit sämtlichen Anforderungen alleine, im Dorf. Antonia leidet unter der Last und der Isolation, was bei Timon zunehmende Widerspenstigkeit auslöst. Hilfe haben Antonia und Timon keine zu erwarten. Nur der ehemalige Lehrer Valentin, selbst ein Außenseiter, kommt mit Timon zurecht. Ausgerechnet, denn auf den ist Antonia nach ihrer Schulzeit alles andere als gut zu sprechen.
Dass Dörfer ein ziemlich ekelhafter Platz sein können, um dort mit Kindern zu leben, beschrieb schon Yael Inokai. Ein besserer Platz findet sich auch hier nicht. Die Ursachen sind teilweise ähnlich, es wird übereinander geredet, aber nicht miteinander. Große Dramen werden unter den Teppich gekehrt. So wie damals bei Antonia und Tanja. Solche unausgesprochenen Probleme werden nie richtig verdaut, weder von den Mädchen, noch vom Dorf. Jedes Gerücht, jedes Vorurteil zählt weitaus mehr als der persönliche Austausch. Nur eine Frau wagt nach Jahren, mit Valentin reinen Tisch zu machen (und ihm fortan auch wieder zu vertrauen).
Antonia selbst findet in der Situation natürlich auch keinen Weg aus der Krise. Zog sich der erste Mann rasch aus der Erziehung zurück, als er merkte, dass das nicht so einfach ist, fängt der zweite gar nicht erst an. Eine Stelle im Buch bringt das afrikanische Sprichtwort ins Spiel, es brauche in ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Gälte das, wäre es eine Hilfe. So aber:
Das war schon immer so, hier, in diesem verdammten Scheißdorf, dass alle dreinreden, und wenn es wichtig wäre, schauen sie nur zu und keiner sagt was.
Alain Claude Sulzer – Unhaltbare Zustände
Bern, 1968. Im ersten Kaufhaus am Platz, dem Quatre Saisons, kümmert sich seit Jahrzehnten der Dekorateur Stettler um die Schaufenster. Langsam geht es auf die Rente zu. Beim vielen Kriechen in den sieben Fenstern zwickt schon mal das Knie. Aber niemals würde Stettler seine Gewissenhaftigkeit und seine präzisen Planungen aus den Augen verlieren. Just da stellt die Geschäftsleitung einen neuen Dekorateuer ein. Ein junger Mann, der selbständig mit eigenem Team arbeitet. Stettler ist richtiggehend erschüttert, so aufs Abstellgleis geschoben zu werden.
Stück für Stück lernen wir diesen Stettler kennen. Ein gewissenhafter, spießiger Mensch, der für mich auch stellvertretend für eine Generation steht, die ich noch kennengelernt habe: Angestellte im (grauen Kittel), die penibel auf Akuratesse achteten und den Mitarbeitenden die Frisuren praktisch millimetergenau vorschrieben. Eine Generation, nach deren Auffassung man sein Leben nur im Griff hat, wenn man nicht im Unterhemd auf dem Balkon sitzt.
Dabei entlarvt Sulzer speziell Stettler gleichzeitig als einen Menschen, der menschlich arm geblieben ist. Jahrelang lebte er mit der Mutter zusammen; Gedanken an eine eigenen Familie gab es nicht. Einen privaten Bekannten-, gar Freundeskreis gibt es ebensowenig wie auch nur ansatzweise eine Ahnung davon, wer seine Mitarbeiter sind.
In dieser Isolation trifft die strategische Entscheidung des Kaufhauses jemanden wie Stettler natürlich doppelt. Da gibt es niemanden, der ihm zuspricht und mangels sozialer Eloquenz hätte Stettler wohl auch erhebliche Schwierigkeiten, sich auf jemanden einzulassen. Bezeichnenderweise ist eine Person, mit der er die Kontaktaufnahme wagt, eine entfernt lebende Pianistin, die er nur aus dem Radio kennt. Stettlers Versuch, sich irgendwie Luft zu verschaffen, kann unter diesen Umständen nur zum Fiasko werden.
Ivna Žic – Die Nachkommende
Eine junge Frau sitzt im Zug. Sie stammt aus Zagreb oder einem Dorf in der Nähe und sie hat eine Fahrt angetreten, die satte drei Tage dauern wird. Viel Zeit zum Nachdenken. Über ihre Mitpassagierin im Abteil. Über ihre Kindheit, ihre Vorfahren. Oder über den Ort, in dem sie groß wurde und Orte, in denen sie später ihre Zeit verbrachte. Über ihre Muttersprache, die immer da ist und sich trotzdem verändert. Dazwischen der Balkankrieg und zahlreiche andere Bahnfahrten, die drei Tage dauerten.
Die Jury spricht „von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität“. Ich persönlich hingegen war knapp vorm Abbruch. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich gebraucht habe um zu begreifen, wohin ihr Zug nun fährt (Abhilfe leistete der Klappentext), wer tatsächlich im Abteil sitzt und was sie nur träumt. Die Sätze teilweise wahnsinnig kurz, teilweise ellenlang. Gedankenhüpfer in den Sätzen und den Abschnitten; mitten im Satz wechselt Žic die Richtung.
Lange habe ich nicht verstanden, wo der Geliebte lebt oder was es mit ihm auf sich hat. Dafür weiß ich nun, dass irgendein Großvater früher einmal malte. Der Reisenden wird auf Seite 66 eine Frage gestellt, anworten wird sie nach einer ausführlichen Abschweifung drei Seiten später. Irgendwann sitzt sie im Bus von Zabgreb nach Zürich, aber was hat sie in Zagreb eigentlich gemacht? Außer, dass sie an früheren Schulkameraden vorbei lief?
Ein Topthema: Die Reflektion einer Herkunft oder einer Zugehörigkeit. Eigentlich auch für mich nach fast schon 15 Jahren im Ausland, in Ländern, die unterschiedlich nah oder fremd sind (wie man’s nimmt). Nur ziemlich anstrengend zu lesen, sodass ich gar nicht dazu kam, den Gedanken wirklich zu folgen, geschweige denn, eigene Impressionen zu entwickeln. Ich war damit beschäftigt, den Sinn der Sätze zu erfassen. Damit schiebe ich dieses Buch erst einmal an das Ende meiner persönlichen Liste.
Sibylle Berg – GRM. Brainfuck
Lassen wir mal die Jury zu Wort kommen: „Sibylle Berg … attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Fantasie.“ Vordergründig scheint das eine Dystopie zu sein, angesiedelt in einem Post-Brexit-England. Doch eigentlich ist der Roman ziemlich nah an dem, was an wirtschaftlichen Verknüpfungen längst angelegt ist: Die Arbeitsbedingungen haben sich dank Automatisierung und permanenter Wertschöpfung so verschlechtert, dass die Mehrheit der Menschen entweder arbeitslos ist oder prekär beschäftigt. Aussichtslosigkeit prägt ihre Tage, die besonders Männer in Gewalt und Machtphantasien zu erdrücken versuchen. Wer immer an irgendetwas schuld sein könnte, wird deswegen ausgegrenzt. Die Führungsriege verlässt sich bei ihrer Arbeit auf künstliche Intelligenz und hat mit einem Grundgehalt, einem Belohnungssystem und lückenloser Überwachung ein tumbes Volk herangezogen. Vier Jugendliche versuchen sich in diesem Land an einer kleinen Rebellion.
Oh ja, GRM lässt kein gutes Haar an dieser Gesellschaft (→ zur Buchbesprechung auf Bleisatz). Die denkbaren oder schon möglichen Auswüchse treibt der Roman gnadenlos auf die Spitze. Das Leben in Armut taugt abendfüllend zur Primetime-Unterhaltung (manch seltsame Scripted-Reality-Sendungen laufen ja heute schon erschreckend gut). Gewalt gegen Kinder und Frauen ist an der Tagesordnung, doch die Polizei schaut weg. Probleme der Unterschicht sind für sie irrelevant und den Ring für Kinderprostitution verfolgt man besser nicht, sonst ist man am Ende noch wegen des Verdachts auf racial profiling dran (für solches Wegsehen gibt es reale Vorbilder). Außerdem kreiert Sibylle Berg sprachlich ein passendes Raster.
Technische Geräte werden am Black Friday erworben. Hurra, Black Friday. Sachen kaufen. Jagen, sich im Vorteil wähnen, endlich mal gesiegt bei irgendwas.
Zum Buch passt eigentlich der Untertitel am besten: Brainfuck. Das passt zu dem, was die Regierung mit den Menschen macht. Der Untertitel passt zu einem der Protagonisten (es gibt tatsächlich eine Programmiersprache gleichen Namens, entwickelt von einem Schweizer). Brainfuck passt zu dem, was mit dem Leser passiert: Der steigt nach über 600 Seiten aus einem intensiven Schleudergang mit Sinnlosigkeit, Ausbeutung und totaler Überwachung aus.
Eine vielfältige Auswahl
Alain Claude Sulzer hat mich gut unterhalten. In gewisser Weise hat dieses Buch auch eine gute Pointe. Die Jury findet in der Geschichte eine Sprache wieder, „die sich und uns Zeit lässt“ und erkennt in Stettler eine „so vielschichtige wie anrührende Figur“. Die Sprache lässt tatsächlich Zeit für eine Entfaltung ihrer Figuren. Thematisch aber (zumindest aus der Perspektive eines Buchpreises gesehen, wie ich ihn wahrnehme) rührt mich die Story ebenso wenig wie letztes Jahr Peter Stamms Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt (die schlussendlich prämiert worden war). Alternde Männer scheitern schön erzählt an sich selbst. Letztes Jahr fand ich das schon nicht preiswürdig, dieses Jahr genauso wenig.
Mit Tabea Stamm wurde ich persönlich nicht so warm. Wenngleich das Buch thematisch weitaus spannender ist. Vielleicht lag es an den Zeitsprüngen? Die kommen unvorhersehbar: Timon wird über fortlaufende Abschnitte hinweg größer, sodass mir oft die Orientierung auf der Zeitachse fehlte. Vielleicht auch nicht. Über den Roman von Ivna Žic habe ich bereits ein wenig geschrieben. Inhaltlich konnte ich ihr gar nicht folgen. Hier kommt nochmals Peter Stamm ins Spiel, der gerne sagt: „Jedes Buch ist für bestimmte Leser.“ Jene Bücher und ich haben uns dieses Mal eben auch einfach nicht getroffen.
Aufeinandertreffen zweier Favoritinnen
Bleiben noch Sibylle Berg und Simone Lappert. Beide integrieren in ihren Romanen, auf jeweils völlig unterschiedliche Weise, Einsamkeit, Sinnsuche, Beziehungen, Gesellschaft und Bedürftigkeit, aber auch das Schäbige im Menschen. Bei Lappert ein klug komponierter Rahmen mit geschickt geführten Fäden. Bei Berg ein kreativer Wutanfall, der ihre Sache perfekt unterstützt. So rasend hat in der Schweizer Literaturszene wohl noch nie jemand gegen Dummheit oder Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber gesellschaftlichen un politischen Veränderungen angeschrieben.
Berg wird praktisch überall als Favoritin gehandelt. Nachdem ich nun alle fünf Nominierten kenne, tippe ich -trotz vermutlich miserabler Wettquoten- ebenfalls auf ihren Roman. Klar, ich habe auch gesagt, ein paar Dutzend Seiten weniger hätten es sein können. Doch wie würdet ihr entscheiden, zwischen einem wirklich guten, konventionell erzählten Roman und einem wirklich guten, dafür in der sprachlichen Schöpfung auf einer eigenen Ebene geschriebenen Roman? Eben.