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Die Shortlist zum Schweizer Buchpreis 2022

Die Shortlist zum Schweizer Buchpreis 2022

Die Literaturwelt schaut am 20. November 2022 nach Basel. Dort wird der inzwischen 15. Schweizer Buchpreis verliehen. Es geht um „das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk in diesem Jahr“. Auf die zugehörige Shortlist haben sich in diesem Jahr 58 Verlage Hoffnung gemacht. Insgesamt 88 Titel waren bei der Jury eingereicht worden. Nicht viel weniger als im vergangenen Jahr. Die Jury setzt, so ihr Statement, „auf sprachliche Virtuosität und Kühnheit ebenso wie existenzielle Stoffe. Andererseits begegnet man narrativer Spannung, überbordender Fabulierlust und einem manchmal abgründigen Witz.“

Die Zahl der Debüts hat sich „halbiert“, kommt dafür aber mit einem offenbar recht starken Titel. Kim de l’Horizon steht mit seinem Roman „Blutbuch“ nämlich auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022. Und wo wir gerade bei jenem Buchpreis sind: Während die Literaturredakteurin des DLF einige „etablierte Schriftsteller jenseits der 60, die in den vergangenen Jahren als gesetzt gelten konnten“ noch vermisste, namentlich Thomas Hürlimann, taucht just der Vermisste in der Basler Auswahl auf.

Ein Jahr ohne Zukunftsvisionen

Auf der Shortlist des diesjährigen Schweizer Buchpreises dreht sich praktisch alles um Identitätsfragen, Lebenswege und das eigene Werden. Dabei ist die Mehrheit der Titel vermutlich bisher nicht auf dem Radar der breiten Leserschaft gesehen worden, möchte ich wetten. Wobei das eine persönliche Einschätzung ist, die ich daran festmache, wie gut die Titel in den Bibliotheken im Umkreis vertreten sind. Es gab Jahre, da waren praktisch alle Bücher am Stichtag aufzutreiben. In diesem Jahr ist das überhaupt nicht der Fall.

Zwar ist das Thema Lebenswege, unter dem sich die Liste insgesamt einordnen ließe, schon alleine offen für ein breites Spektrum – und die Jurybegründung spricht sehr dafür: Grenzerfahrungen wie Depression und Psychiatrie, Auflösung der geschlechtlichen Identität, Rache für eine traumatische Kindheit. Aber trotzdem fehlt mir ein bisschen was. Sei es, weil nur eine Frau dabei ist. Sei es, weil eine gesellschaftliche Zukunftsvision fehlt, wie einst mit Julia von Lucadou oder Sibylle Berg. Oder sei es, der weil der Bereich Klima und Umwelt irgendwie nicht vorkommt (wie bei Lukas Maisel beispielsweise). War das in den eingereichten Titeln nicht ausreichend vertreten?

Das werde ich nicht erfahren, daher ein Blick auf die nominierten Titel im Detail:

Simon Froehling – Dürrst

Froehlings zweiter Roman führt nach Athen, Kairo, Berlin und Zürich und öffnet den Blick in die Lebensrealität eines homosexuellen Mannes, der zwischen Dating- und Künstlerszene seinen Weg sucht und immer wieder mit den Abgründen seiner bipolaren Erkrankung konfrontiert ist. Konsequent in der zweiten Person erzählt, hält das Buch Leser und Leserinnen auf Distanz und geht doch unter die Haut. So schonungslos die Schilderungen sind, so kunstvoll verbinden sich die Zeitebenen zu einer Lektüre von ungewöhnlicher Intensität.

Lioba Happel – Pommfritz aus der Hölle

Aus dem Gefängnis heraus schreibt Fritz 23 Briefe über seine Kindheit. Er schreibt an den «Vatter», den er als Kind nur einmal zu Gesicht bekommen hat, er schreibt über die Spezialschule, die Sozialarbeiterin vom Amt und die rettende Begegnung mit der Literatur Rimbauds. Vor allem aber schreibt er über die Mutter, die ständig aß, ihn ans Tischbein band und schlug – und die er schließlich umgebracht hat. Wie es dazu kam, wird furios erzählt, mit einem Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Thomas Hürrlimann – Der Rote Diamant

1963 kommt der elfjährige Arthur Goldau in ein Klosterinternat, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Die Fratres führen ein strenges Regiment, es wird gelernt, was schon Generationen vorher gelernt haben, die österreichische Ex-Kaiserin Zita kommt gelegentlich zu Besuch, und es soll sich sogar ein sagenumwobener Diamant aus der Habsburger Krone im Kloster befinden. Doch die Jugendlichen sehen den gesellschaftlichen Umbruch schon am Horizont. Mit der Mischung aus spannendem Internatsroman, philosophischem Kloster-Krimi und ironischem Abgesang auf eine vergangene Zeit zündet Hürlimann ein grandioses Erzählfeuerwerk.

Thomas Röthlisberger – Steine zählen

Ein nordisches Drama entfaltet sich um Matti, der allein, nur mit Hund, Gewehr und Schnapsflasche, in seiner Bauernkate in Südfinnland zurückbleibt; um Märta, seine Frau, die ihn nach vierzig Jahren verlassen hat, und um Olli, den Sohn, der seinen Platz im Leben nicht gefunden hat und immer in Geldnöten steckt. Eines Tages findet der lokale Polizeibeamte Matti vor dem Haus in einer Blutlache liegend. Der Text, der alle Ingredienzien eines guten Krimis hat, entwickelt sich zu einem tiefgründigen Roman um Lebenslügen und Verstrickungen.

Kim de l’Horizon – Blutbuch

Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, ist die Erzählfigur von «Blutbuch» den engen Strukturen der Herkunft entkommen, lebt in Zürich und fühlt sich im nonbinären Körper wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit und den bruchstückhaften Erinnerungen an die eigene Kindheit auseinanderzusetzen. Der Text lässt Erzählkonventionen hinter sich und erzählt auf verblüffend eigenwillige Art eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten.

Der Schweizer Buchpreis
Die Auszeichnung ist mit insgesamt 42‘000 Franken dotiert. Der oder die Preisträger*in erhält 30‘000 Franken, die anderen Finalist*innen jeweils 3‘000 Franken.
Die öffentliche Preisverleihung findet am 20. November 2022 im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt. Zur Jury in diesem Jahr gehören die Buchhändlerin Tanja Bhend, ein weiteres Mal die Kulturjournalistin Sieglinde Geisel, Kulturjournalistin Martina Läubli, die SRF-Literaturbloggerin Annette König (inzwischen zum dritten Mal) sowie Yeboaa Ofosu, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin. Autor:innen sowie Vertreter:innen von Verlagen dürfen der Jury nicht angehören.


Fotomontage: mit einen Foto von Sirotorn Sumpunkulpak, unsplash

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