Shortlist-Lesen für den Schweizer Buchpreis 2018

von Bettina Schnerr
9 Minuten Lesezeit
Header für das Special zum Schweizer Buchpreis 2018; Foto: Natalya Letunova, unsplash, Motiv Treppenhaus in Anlehnung an das Cover von Vincenzo Todisco

Wer schrieb das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk in diesem Jahr? Vor dieser Entscheidung steht in der Schweiz jährlich eine Jury aus fünf Literaturexperten, die solch ein Werk für den Schweizer Buchpreis prämieren. Zwar gibt es schlussendlich nur einen Sieger für den Schweizer Buchpreis, gleichwohl soll jeweils allen fünf nominierten Titeln eine größtmögliche Bühne geschaffen werden. Verlage reichen Titel ein, die entweder von Schweizer AutorInnen oder von in der Schweiz lebenden AutorInnen geschrieben wurden.

In diesem Jahr sichtete die Jury 85 Titel und ließ verlauten, man habe es noch nie so schwer gehabt mit der Auswahl. Es ist von einem „embarras de richesse“ die Rede. Man war also geradezu erschlagen von der Güte der eingereichten Texte. Geeinigt hat man sich aus diesem sprudelnden Quell auf die folgenden Titel (die Links führen direkt zur Kurzvorstellung hier):

Die fünf Titel im Überblick

Im Vergleich zur Shortlist des Deutschen Buchpreises fällt mir vor allem auf, dass es dieses Jahr quasi einen Buchpreis der dicken Bücher und einen der dünnen Bücher gibt. In Deutschland ackert sich die Jury durch wenigstens vier Bücher zwischen 432 und 750 Seiten, während die der Schweiz nur 155 bis 288 Seiten im Rennen hat. Hat uns das etwas zu sagen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass auch die Bücher der Schweizer Literaturpreise von 2018 ausschließlich mit Werken zwischen 96 und 260 Seiten zu tun hatten. Gibt es regional Tendenzen zur knapperen Sprache?

Vincenzo Todisco - Das Eidechsenkind

Vincenzo Todisco – Das Eidechsenkind

Todisco erzählt in seinem ersten deutschsprachigen Roman von einem Schicksal, wie es in den 1970er Jahren in der Schweiz öfter vorkam: Zahlreiche Gastarbeiter kamen ins Land, deren Kinder aber durften nicht in allen Fällen mit. Da spielte es keine Rolle, ob sie in Italien betreut werden konnten oder nicht. Viele Gastarbeiter brachten die Kinder totz der unmenschlichen Vorschriften mit und versteckten sie so gut es ging in den Unterkünften. So auch jenes, dessen Name wir nie erfahren werden. Seit die Oma es wegen seiner Fähigkeit, sich schnell und überall verstecken zu können, Lucertola (Eidechse) genannt hat, bleibt nur der Spitzname von ihm. Lucertola ist lautlos, flink und passt in jede Ritze, um unentdeckt zu bleiben.

Vater und Mutter arbeiten, um möglichst bald ins Heimatdorf zurückkehren zu können und dort ein eigenes Haus zu bekommen. Lucertola ist über Stunden auf sich alleine gestellt, über Jahre hinweg. Spielsachen werden versteckt, Vorhänge dürfen sich nicht rühren. Als wäre die Geschichte eines Kindes, das sein ganzes Aufwachsen illegal in einer kleinen Wohnung erlebt, nicht schon traurig genug, die distanzierte Erzählweise verstärkt die abweisende Umwelt zusätzlich. Zwar findet Lucertola heimliche Verbündete, doch bis die ersten Kontakte entstehen, hat das Kind schon längst eine Verhaltensstörung und Probleme, sich altersgerecht zurecht zu finden. Am Ende, als der Traum von einer Rückkehr zusammenbricht und Lucertola als junger Erwachsener mit einem Paukenschlag in der Schweizer Realität landet, ist vom Traum eines normalen Lebens für keinen Beteiligten noch etwas übrig.

Gallus Frei erinnert in seiner Rezension daran, dass damals rund 250.000 italienische Gastarbeiter in der Schweiz lebten. Wohl notwendig für die Wirtschaft, trotzdem unerwünscht. Die gering bezahlte Arbeitskraft durfte ins Land, aber keine Kinder haben. Die große Zahl der Gastarbeiter löste nach 1968 mehrere „Überfremdungsinitiativen“ aus und jene von 1974 spielt auch im Buch eine kurze Rolle. Todisco arbeitet stellvertretend für andere ein bedrückendes Kapitel der Geschichte auf. Lucertola, das namenlose versteckte Kind könnten viele sein.

Peter Stamm - Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Peter Stamm – Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Ein Roman, der bewusst mit einer Konstruktion spielt, den zwei Paaren Christoph und Magdalena sowie Chris und Lena. Die Charaktere unterscheiden sich um etwa zwanzig Jahre im Alter, ähneln sich ansonsten aber auf verblüffende Weise: Beide Frauen sind Schauspielerinnen, während die Männer als Schriftsteller arbeiten. Christophs großes Werk liegt zwanzig Jahre zurück und handelt von der Liebe zu Magdalene; Chris arbeitet gerade an seinem ersten Roman, der wiederum von seiner Beziehung zu Lena handelt.

Christoph lädt Lena zu einem Gespräch ein, als er sie in Schweden trifft. Dort war auch er einst zum Schreiben und Lena spielt zufälligerweise eine Rolle, die auch Magdalena auf der Bühne verkörperte.

Was würde passieren, wenn wir einem jüngeren Ich begegnen würden? Gibt es das überhaupt, dass sich Lebensentwürfe in andern Menschen wiederholen? Sei diese Ähnlichkeit zwischen Menschen ein diffuses Gefühl, dass einen in grüblerischen Stunden überfällt, sei es ein Zufall, dass sich Menschen mit ähnlichen Lebensläufen tatsächlich begegnen, sei es ein tiefer Wunsch, Menschen zu treffen und ihnen aus den eigenen Erfahrungen heraus einen Weg aufzeigen zu können — für Christoph entwickelt sich die Begegnung mit Lena zu nichts dergleichen.

Ich bin Ihnen den ganzen Nachmittag gefolgt, wenigstens ein paar Stunden wollte ich in der Illusion leben, ich sei noch einmal jung und könnte meinem Leben eine andere Wendung geben.

Christoph passiert nichts anderes, als dass er seiner Liebe hinterhertrauert und sich wegen des Verlusts ganz schön leid tut. Die sehr wache Lena erinnert ihn mehrfach daran, wo er in die Irre läuft. Das tut der Charakter Christoph allerdings schon seit Jahren; er hätte vor zwanzig Jahren vermutlich auch dann seine Freundin verloren, hätte sie nicht Magdalena geheißen. Und so wird er auch heuer von Lena mit seinen Gedankenwelten alleine gelassen: „Ich denke, es ist besser, wenn wir keinen Kontakt mehr haben.“ Auf die Midlife-Crisis eines selbstmitleidigen Mannes muss sie nun auch wirklich keine Lust haben.

Julia von Lucadou - Die Hochhausspringerin

Julia von Lucadou – Die Hochhausspringerin

Was ist das für eine Zukunftsvision, wenn Menschen sich nur beim Fliegen frei fühlen können und dabei noch ihr Leben riskieren? Riva lebt in so einer Zukunft als Hochhausspringerin, eine Art Cliff Diving, nur nicht ins Wasser. Hochhausspringer springen von Häusern und werden von technisch ausgefeilten Anzügen kurz vor dem Asphalt abgefangen, eine Art Wingsuit ohne Wings. Rivas Leben ist durchgetaktet und kontrolliert, ihre Social Media-Kanäle werden häufig bestückt und wo man kann, werden Merchandising-Produkte vermarktet. Für ihre Leistungen kassiert sie Credits, mit denen sie in der Stadt wohnen darf und sich ihr Leben finanziert.

– Macht es dich nicht wütend, fragte sie, dass wir nichts selbst entscheiden können?
– Sie versuchen ja nur, unser Potenzial zu erkennen und zu fördern.

Was aus Anhieb aussieht wie ein typisches Leistungssportlerleben, erwischt jeden, der in der Stadt leben will: Absolute Kontrolle über Tracker jedweder Art, die vom Kommunikationsverhalten bis hin zum sportlichen Tun alles protokollieren. Abweichungen werden angemahnt, Credits werden abgezogen, Zwangsumsiedlungen eingeleitet. Solche Relocations geschehen im besten Fall innerhalb der Stadt in andere Viertel; im schlimmsten Fall geht es ab in die Peripherien, weitläufige Siedlungen außerhalb. Zwar ohne Kontrollen, aber auch ohne Aufstiegschancen. Eines Tages verweigert Riva ohne jeden Anlass das Training. Die Psychologin Hitomi versucht, mit einer Live-Analyse Rivas Leben wieder auf „Normalzustand“ zu drehen.

Bei Julia von Lucadou ufert alles aus, was in unserer Kultur gerade angesagt ist. Die Fitnesstracker melden in Echtzeit nicht nur Daten an die Nutzer, sondern auch an die Arbeitgeber. Da geht es um mehr als den netten Zustupf von Krankenkassen zu den Kosten von Sportstunden. Jeder ist zu täglichen Mindfulness-Übungen verpflichtet und Hitomis Chef wechselt ständig die Büroeinrichtung, um damit seine Performance zu verbessern. Selbstoptimierung am laufenden Band. Inakzeptabel nur, wenn ein Mensch Mensch geblieben ist. So wie Riva oder Hitomi. Der Psychologin bekommt die Rundum-Überwachung der Sportlerin gar nicht gut. Je weniger sie Rivas Verhalten einschätzen und verbessern kann, umso mehr drückt es ihre eigenen Kräfte zu Boden. Hitomi beginnt, Fehler zu machen.

Eine in den Details fein abgestimmte Dystopie, die viele unserer Grundwerte in den Mittelpunkt rückt, gerade weil sie jene so vehement an den Rand schiebt. Es mag sein, dass man für das Erreichen seiner Ziele etwas aufgeben muss. Die Frage ist, was das sein soll und ob es das wert ist. Der Preis für das erstrebenswert scheinende Leben ist hoch und man muss sich unter anderem fragen, ob tatsächlich menschliche Grundwerte dafür aufgegeben werden müssen.

Gianna Molinari - Hier ist noch alles möglich

Gianna Molinari – Hier ist noch alles möglich

Mit diesem Buch werde ich spontan wohl immer den Kommentar von Florian Valerius verbinden, der es bereits für den Deutschen Buchpreis als Buchpreisblogger gelesen hatte. Der Titel machte ihn in vielerlei Hinsicht ratlos, weil er überlegte, „was dieser Roman mir überhaupt erzählen wollte und noch schlimmer, weil ich mich frage, was dieses Buch auf dieser Liste zu suchen hat.“ Ich dachte, vielleicht nehme ich es anders wahr, aber nein, was ihn schon für für den Deutschen Buchpreis #dbp18 ratlos machte, schafft dasselbe Buch bei mir für den Schweizer Buchpreis #sbp18 nun auch.

Eine junge Frau beginnt als Nachtwächterin in einer Kartonfabrik, die demnächst geschlossen wird. Auf dem Gelände soll ein Wolf gesichtet worden sein, den der Chef unbedingt fangen lassen will. Die Nachtwächterin prüft nun parallel zu den Räumen auch Tellereisen und gräbt mit ihrem Kollegen eine Fallgrube. Soweit zur Handlung.

Alles andere fasert aus: Die junge Frau schreibt an einem „Lexikon“, eine Art Stichwortsammlung, die sie mit kurzen Impressionen bestückt. Da die Firma bald nicht mehr stehen wird, fällt der Putz von den Wänden und die Nachtwächterin meint, darin Inseln zu erkennen. Im Buch zu sehen sind kleine Zeichnungen solcher Löcher in der Wand, begleitet von den Ideen der Nachtwächterin, was auf diesen Inseln zu finden sein könnte. Zwischendurch Schwarzweiß-Fotografien mit unscharfen, nebligen Motiven. Irgendwie muss dann noch die Geschichte eines Flüchtlings reingebastelt werden, der vor Jahren beim Landeanflug eines Flugzeugs aus dessen Radkasten fiel. Nach Angaben der Autorin ein zentrales Element bei der Inspiration für dieses Buch. Die Nachwächterin findet Löcher im Zaun und findet dann heraus, dass das Gras auf beiden Seiten des Zauns identisch wächst. Ja, soll das Gras denn etwas anderes tun?

Was soll ich mit all diesen zusammenhanglosen Fragmenten anfangen, die sich zu keiner Handlung zusammenfügen lassen, die nichts an mich herantragen und alles so beliebig erscheinen lassen?

Heinz Helle - Die Überwindung der Schwerkraft

Heinz Helle – Die Überwindung der Schwerkraft

Zwei Brüder torkeln betrunken durch München. Ein Satz, der die erste Hälfte des Buchs nahezu abdeckt. Der eine Mann von einer amerikanischen Mutter, der zweite Mann aus der zweiten Ehe des Vaters, zwölf Jahre jünger. Der Jüngere kann nie Nein sagen, wenn der Ältere klingelt und um die Häuser ziehen will. Also ziehen sie los, trinken, machen merkwürdige Sachen, die Betrunkene machen, fliegen wegen ihres Benehmens auch schon mal aus einer Kneipe und labern.

Man muss sich daran erinnern, was man über Betrunkene mal gehört hat, die sagen angeblich immer die Wahrheit. In diesem Fall ist das der Ältere, nach dessen Tod der Jüngere sich nochmal an die letzte gemeinsame Kneipentour erinnert. Und das acht Jahre nach dieser Tour in minutiöser Genauigkeit. Der Ältere quält sich jahrelang mit Ängsten, offenbar seit er für das Kinderhilfswerk der UN gearbeitet hatte und ganz besonders, seit er von dem unsäglichen Fall von Marc Dutroux und dessen perfidem Netzwerk gehört hatte. Er nimmt die Welt als trauriges Elend wahr, voller Leid und Kriege und er stellt fest, dass nur die Spezies Mensch in der Lage ist, ständig neue Grausamkeiten zu erfinden. In wenigen Monaten solle er Vater werden und fragt sich, ob man guten Gewissens Kinder in so eine entsetzliche Welt setzen kann.

Ich gehe Betrunkenen ja gerne aus dem Weg. Für dieses Buch trifft das aus verschiedenen Gründen auch zu. Sprünge in Erinnerungen und Themenwechsel sind in diesem Ausmaß literarisch gesehen nicht meine Lieblinge, aber zu stemmen. Erinnerungen folgen nun mal keiner linearen Abfolge. Auf wirklich tönernen Füßen steht der Stil, denn ellenlange Sätze, die praktisch nur aus Nebensätzen bestehen und in denen man den Punkt sucht, machen es kein bisschen einfacher. 19, 27 oder 30 Zeilen für einen Satz? Am laufenden Band. Das ganze Buch windet sich auf diese Weise. Erzählerisch ist löst sich das Buch bei mir komplett auf. Am liebsten hätte ich es abgebrochen, weil ich an keiner Stelle die Idee zu fassen bekam, um die es hier vielleicht gehen könnte.

Was tun mit der Auswahl?

Mit Molinari muss ich nicht zurecht kommen. Ein Buch ohne Blickwinkel, explodierte Textfragmente, pure Konstruktion. Helle überzeugte mich leider auch nicht. Zwar kompakter, doch trotzdem nicht greifbar. Beide waren aber am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel; das zählt einigen Medien zufolge als Pluspunkt, unabhängig vom Buch vielleicht.

Großer Favorit für den Schweizer Buchpreis in dieser Runde ist offenbar Peter Stamm. Gäbe es Wetten, bekäme man für Stamm nur eine kleine Favoritenquote für seinen Einsatz. Er war bereits zwei Mal nominiert, ging jedoch leer aus. Viele vermuten folglich, er bekomme den „längst überfälligen Preis jetzt endlich mal“. Nochmals leer ausgehen lassen ginge nicht. Keine Frage, Stamm ist ein guter Erzähler. Nicht umsonst gehört er zu den bekanntesten Autoren des Landes. Nur: Zählt ein „schlechtes Gewissen der Jury“ in der Wertung, wenn andere gute ErzählerInnen dagegen stehen, die inhaltlich wesentlich besser punkten?

Die inhaltlichen Abräumer sind tatsächlich andere: Da ist zum Einen Vincenzo Todisco, der sich mit einem dunklen Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte befasst und mit einer Aufarbeitung des Schicksals von Gastarbeiterkindern beginnt. Thematisch ein ganz anderes Kaliber als ein mittelalter Mann mit Midlife-Crisis, gleichwohl mindestens ebenso gut erzählt, in einer Spröde, die ideal zum Thema passt. Und ein Thema, das -wenn auch unter anderen Vorzeichen- in den USA mit der Trennung von Familien wieder brandaktuell ist. Da ist zum Anderen Julia von Lucadou, die sich tagesaktuell Gedanken über Digitalisierung, Selbstoptimierung und Echtzeitkontrollen macht und damit am Puls der Zeit notweniges Hinterfragen lostreten kann. Die Auswüchse der Optimierung werden uns eine Menge Menschlichkeit kosten. Wagen wir uns in diese wichtigen Diskussionen?

Mehr dazu passende Literatur:
Empfehlungen dystopischer Literatur (auch mit Julia von Lucadou)
Schweizer Literatur auf Bleisatz

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