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Ein Experiment, eine Chance – Solothurner Literaturtage 2020

Ein Experiment, eine Chance – Solothurner Literaturtage 2020

Ausfallen hätten sie sollen, die Solothurner Literaturtage. Wie so viele Veranstaltungen in diesem Frühjahr und Sommer. Auf eine gewisse Weise taten sie das auch. Auf eine andere Weise trotzten die Veranstalter den Umständen. Innerhalb von nur acht Wochen wurde das Konzept völlig umgekrempelt, sodass die Tage rund um Auffahrt nicht ganz ohne Literaturevent bleiben mussten.

Nora Zukker, Mitglied der Programmkommission, erzählte im Gespräch mit Buchjahr, was so alles auf den Prüfstand gehörte: Formate, Themen, Veranstaltungsorte, Konzepte. Funktioniert etwa eine Wasserglaslesung online? Die Veranstalter entschieden sich konsequent gegen eine einfache Verlagerung des Geplanten ins Netz und suchten Formate, die in einem Stream mehr hergeben würden sowie Formate, die eine Zuschauerbeteiligung ermöglichten. Als halbgarer Lückenfüller sollte das Programm nämlich nicht dienen. In Solothurn ergriff man die gebotene Chance zum Ausprobieren. Wohl im kleineren Rahmen, aber auch daran angepasst.

Keine Zeit für Umwege

Die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga hätte ursprünglich die Eröffnungsrede halten sollen. Statt dessen saß sie in Bern und zeichnete ein Gespräch mit der Schriftstellerin Simone Lappert auf, das als Einstieg gesendet wurde. Ein Kompromiss? Keinesfalls!

„Politik braucht Kreativität und Literatur ist oft politisch.“

Simonetta Sommaruga

Das Thema „Politik und Literatur“, das sich Sommaruga ausgesucht hatte, funktionierte im Gespräch mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser — ganz ohne Moderation. Simone Lappert hatte sie sich als Gesprächspartnerin selbst ausgesucht, weil sie Der Sprung auf Empfehlung von Freunden erst vor Kurzem selbst gelesen hatte. Dem Buch gelang, was in der Realität nicht klappte, wie sie erzählt: Sie konnte auf literarische Weise mit Menschen konkret in Kontakt kommen. Und der Funke sprang im zweiten Satz über:

Eigentlich springt sie nicht. Sie macht einen Schritt ins Leere.

Simone Lappert, in: Der Sprung

Damit als Einstieg gelang es Sommaruga und Lappert immer wieder, die Möglichkeiten der Literatur mit aktuellen Bezügen zu verknüpfen. Simone Lappert ist von Berufs wegen immer auf der Suche nach Unsicherheiten, um sie zu beleuchten. Momente wie diese, wo die Menschen kollektiv auf sich selbst zurückgeworfen werden, betreffen sie nun selbst auf eine ganz neue Weise. Simonetta Sommaruga hat von Berufs wegen viel mit Widersprüchlichkeiten zu tun. Literatur bietet ihr eine Möglichkeit, das auszuhalten. Die Auseinandersetzung mit der Literatur erhalte ihr eine gewisse Sensibilität, die sie im politischen Alltag mit seinen zahlreichen Ambivalenzen brauche.

Es ist keine Zeit für Umwege: Für beide nicht. Die eine muss Entscheidungen treffen, oft innert weniger Stunden, wo die Prozesse sonst mehrere Jahre dauern. Die andere braucht Zeit, um Stoffe zu entwickeln und in sich stimmig zu machen.

Simone Lappert gibt abschließende eine Warnung mit auf den Weg: Sie begrüßt das Experiment, um Kunst sichtbar zu machen, weil Begegnung nicht möglich ist. Aber die Sichtbarkeit funktioniere nicht für alles und sie warnt davor, den Gang ins Netz zu einem Rückschritt in die Selbstausbeutung der Künstler:innen zu machen: „Es gibt einen Grund, warum Theater und Literaturhäuser gebaut wurden. Kunst darf sich nicht nur ereignen, sie muss erlebbar sein. Und dafür braucht es Räume.“

Was es an den Tagen gibt und was es nicht gibt

Die Räume, die während der zwei Solothurner Literaturtage als Ersatz gedient hatten, das sind Säulenhalle, Foyer, Kneipe und Seminarraum. Was für mich leider nicht geklappt hat, waren die Termine mit Anmeldung. „Der gläserne Übersetzer“ zum Beispiel: Eine Zuschaltung mit der Möglichkeit, mit einem Übersetzer direkt zu sprechen. Oder der Club+, nur zugänglich, wenn man zuvor auch das aktuelle Buch des Autoren gelesen hatte … und eben eine Anmeldung hinbekommen hätte. Aber da letzteres nicht geklappt hatte, musste ich nun auch nicht in Eile noch Tom Kummers „Von schlechten Eltern“ runterreißen. Jetzt habe ich Zeit dafür. Für ein Buch eigentlich auch keine schlechten Voraussetzungen.

Gibt es Club+ auch dann noch, wenn man sich wieder am Aareufer treffen kann? Schön wäre es doch. Nicht jeder kann zu den größeren Literaturveranstaltungen reisen, selbst, wenn die Wege hier im Land kurz sind. Während der sonst üblichen vier Tage Literaturfestival kann ich mir die Option für Daheimgebliebene gut vorstellen.

Immer gut zum Reinschalten waren die Gesprächsrunden. Ein Format, das im Saal funktioniert, ein Format, das auch online etwas hergibt. Das Gespräch etwa über Literatur und Moral mit Nora Gomringer, Lukas Bärfuss und Sandra Künzi hatte mehr als 170 Zuschauer. Vermutlich mehr sogar, als man vor Ort in Solothurn gehabt hätte. Eine Aufzeichnung gibt es nicht, aber hier kann man sich gut vorstellen, dass ausgewählte Podiengespräche künftig parallel via Stream ausgestrahlt werden. Gespräche haben übrigens einen Vorteil, den ich nicht vorhergesehen hatte: Man kann rausgehen, ohne dass der halbe Saal irritiert hinterherschaut.

Bitte behalten: Das Instantdichten

Wussten die Autor:innen Flurina Badel, Romana Ganzoni, Demian Lienhard und Giuliano Musio wirklich, was auf sie zukommen würde? Egal, Samstag nachmittag steckten sie mittendrin in meinem persönlichen zweiten Highlight-Event. Das Instantdichten. Moderiert von Katja Alves und Boni Koller. Ein Event, bei dem man sich aktiv beteiligen konnte, ohne Anmeldung, sondern einfach per Chat (als Gast oder mit Login, ganz wie man wollte), übernommen von Raina Gehrig. Gesucht waren zunächst drei Begriffe, die die Autor:innen innerhalb von 20 Minuten in eine Geschichte einbauen mussten. Eine Handwerkstätigkeit, ein Politiker oder eine Politikerin und eine Auszeichnung.

Katja Alves und Boni Koller moderieren das Instantdichten der Solothurner Literaturtage 2020

Ich schickte los: Surfboard wachsen (eine spontane Eingebung dank „Late Show“, das ich gerade gelesen hatte) – Richard Nixon – Klassensprecherin. Aus allen Einsendungen wählten Alves und Koller dann Wein stampfen, Schwingerkönigin und … Richard Nixon: „So weit weg, dass es wieder gut ist“. Dieses Problem, liebe Autor:innen, hattet ihr also mir zu verdanken, während ich mich beim Quiz amüsieren konnte, das die Schreibzeit überbrückte.

Mit dem Quiz brachten Alves und Koller einen Programmpunkt auf die Solothurner Literaturtage, für den man sie sogar buchen kann. Eine Idee, die an Pubquizzes erinnert, nur dieses Mal komplett auf Literatur zugeschnitten. Welche Schriftstellerin bekam den Ehrentitel „Frau Gottfried Keller“? Für welches Produkt warb Frank Schätzing? Und wieviele Kinderbücher schrieb Klaus Schädelin? Eine sehr interessante Auswahl.

Die vier Schreibenden schlossen das Programm mit der Lesung ihrer kurzen Texten ab: Mal reichte die Zeit nicht mehr für eine Überschrift, einer konnte seine Handschrift nicht entziffern, eine schrieb, bis das Endsignal kam. Die Spontaneität, die Schnelligkeit, der Witz, der über der gesamten Herausforderung lag, spielten dem Charme des Formats absolut in die Hände.

Ein gelungenes Experiment

Mein Fazit für die ganz andere Art der Solothurner Literaturtage? Gelungen. In nur acht Wochen eine Alternative aus dem Boden zu stampfen, inklusive einer neuen Website, die das Projekt technisch stützen musste, ist schon eine Leistung für sich. Die Veranstaltung an sich sollte, wie Nora Zukker im Interview sagte, kein Ersatz sein, sondern als etwas Neues gedacht werden. Ein Vergleich beider Formen wäre an dieser Stelle auch höchst unfair. Die Veranstalter haben versucht, in der Kürze der Zeit das Optimum herauszuholen und ich bin auf zweierlei gespannt: Was die Auswertung des Projekts für die Elemente künftiger Solothurner Literaturtage bedeutet und wie das Experiment eventuell Elemente anderer Veranstaltungen katalysiert.

Nur eines noch: Vermisst habe ich eine aktivere Präsenz in den Sozialen Medien. Der SRF twitterte unter dem offiziellen Veranstaltungshashtag #slt20 mehr als die Veranstalter selber (ich mit meinen paar Tweets übrigens auch) und ich musste Freitag den Hashtag zunächst erfragen, weil er in den ersten Tweets vom Solothurner Account gar nicht erst genannt worden war. Auch Facebook wurde eher sparsam bestückt. Nur auf Instagram war ein bisschen mehr los — sofern man auch merkte, dass der Account @resonanzraum_slt das Projekt zu Peter Bichsels „Die drei Niederlagen des Denkers“ begleitete. Wenn digital, dann richtig und ohne das häufigere Bestücken der Online-Kanäle kann es für mich nicht funktionieren.

Unabhängig davon, wie erfolgreich einzelne Formate sind und welche davon ihren Weg in künftige Programme finden, an Literaturfestivals geht kein Weg vorbei. Das lässt sich bei Nora Zukker gut herauslesen:

„Da gibt es Leute, die jahrelang an einem Text geschrieben haben, der erscheint im Frühling 2020; sie werden nach Solothurn eingeladen, eine Veranstaltung mit einem gewissen Ruf im Literaturbetrieb und dann fällt das weg! Die Leute, die jetzt eingeladen waren, haben nächtes Jahr nicht einfach ein neues Buch.“

Nora Zukker im Gespräch mit Philipp Theison

Lasst uns weiter über gute Bücher reden, online und offline und lasst uns weiter tatkräftige Veranstalter suchen, die den Boden für neue Konzepte bereiten.


Bilder: Screenshots der Live-Ausstrahlungen

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