Es klingt sicher kurios, wenn ich gleich zu Beginn aufschreibe, dass ich dieses Buch unbedingt lesen wollte. Ein Buch über Müll? Ernsthaft? Dabei ist die Idee für mich gar nicht weit hergeholt. Mit meinem eigenen Müll habe ich schließlich täglich zu tun und sehe zu, dass es weniger wird: refuse – reduce – reuse – recycle – rot, wie ich von Bea Johnson gelernt habe (und doch immer noch weit vom Müll im Einmachglas entfernt bin). Den auslösenden Kick aber gab erst vor Kurzem das Buch „Clusterfuck„. Die Autoren schreiben davon, dass sich hohe Vernetzung und Komplexität in einem beliebigen Bereich früher oder später zu einem so großen Problem auftürmen können, dass dem mit einem vernünftigen Ressourcenaufwand nicht mehr beizukommen ist. Eines ihrer Beispiele: Unser Müll. Der wird immer mehr und immer unterschiedlicher (also: komplexer). Müllentsorgung ist folglich verbunden mit immer größerem technischen und finanziellen Aufwand, um den Mengen Herr zu werden. Ihr Fazit: Es ist keine Frage, OB uns das Müllproblem über den Kopf wächst. Die Frage ist nur, WANN es soweit ist.
Früher muss also so einiges besser gewesen sein, dachte ich mir. Warum nicht dort ein paar Ideen abkupfern?
Die „schmutzige Geschichte der Menschheit“ zeigt, dass das keineswegs immer „besser“ war – jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem wir aus heutiger Perspektive vielleicht darauf schauen mögen.
Müll ist nichts Neues
Roman Köster bricht die Müllgeschichte in drei Etappen auf, die Vormoderne, das Industriezeitalter und den Massenkonsum. Grundlegene Änderungen akzentuieren diese Episoden. Müll war zunächst über Jahrhunderte und Jahrtausende vor allem ein praktisches Problem. Er lag herum und stank – besonders in Städten, wo viele Menschen eng zusammenlebten. Der Müll (vieles davon Fäkalien) musste also aus den Städten raus und verteilt oder aufbereitet werden.
Recycling war in der Regel eine wirtschaftliche Notwendigkeit: Da Ressourcen knapp und aufwändig zu beschaffen waren, lohnte sich die Wiederverwertung. Köster nennt als Beispiel, dass deshalb so wenig Metall- oder Glasgegenstände in historischen Müllhaufen zu finden seien. Die Sachen wurden gerne wieder eingeschmolzen.
Mit der Industrialisierung änderten sich wichtige Rahmenbedingungen: Nun gab es neu die Müllsorte „Industriemüll“ mit Chemikalien. Dazu kamen -wieder in den Städten- immer größere Mengen an Abfällen und gleichzeitig wuchs das Verständnis für die damit verbundenen hygienischen Probleme. „Städtische Sauberkeit“ war obendrein eine Imagefrage für die Städte – wie sie in alten Reiseberichten bis heute festgehalten sind.
Mit dem Massenkonsum entwickelten sich Abfälle schließlich zu einem globalen Umweltproblem. Dinge wurden, weil sie billiger hergestellt werden konnten, noch nie schneller als „nutzlos“ deklariert als zuvor — wegen der billigen Preise schloss sich nicht mehr unbedingt ein Recycling an. Und war es früher nur eine Frage, wie man Müll aus einer Stadt in deren Umgebung bugsierte, entwickelten die Länder mit viel Müllaufkommen schlicht andere Länder als Abnehmer für ihre Entsorgung.
Faktenreich und detailliert
Roman Köster schlüsselt diese Müllgeschichte sehr genau auf. Er geht immer wieder auf regionale Unterschiede ein, die sowohl bei der Entstehung von Abfällen bestehen können als auch bei der Weiterverwertung. Japanische Städte waren zum Beispiel sauberer als europäische, weil weitaus weniger Tiere in den Städten gehalten wurden.
Er erzählt, wie private die Müllentsorgung mit ihren fein austarierten Netzwerken und ihrem spezialisierten Wissen Stück für Stück von kommunalen Angeboten abgelöst wurde und Mülltonnen mit passenden Müllwagen entwickelt wurden. Er schreibt über die Entwicklung von Mülldeponien und erklärt, dass mit dem Eingriff der Kommunen ins Abfallwesen auch die traditionelle Verwertungsarbeit verschwand, die jahrhundertelang von den Fäkalien bis zu Altkleidern alles mögliche in eine weitere Nutzung überführen konnte.
Man kann den Müll sammeln, entsorgen, vergraben oder verbrennen — los bekam man ihn trotzdem nicht. Am Ende kehrte er in Form von Altlasten, Grundwasserkontaminationen oder eben Müllstrudeln in die gesellschaftliche Wahrnehmung zurück,
Bis bemerkt wird, dass eine Müllsorte problematisch ist, dauerte es immer eine Weile. Probleme mit Plastik im Meer zum Beispiel tauchten ab den 1960er Jahren auf, aber, so Köster, erst nach neu ausgewerteten Satellitenaufnahmen aus den 1980er Jahren begann die Politik, das Thema ernster zu nehmen. Auch die Entsorgung von Industriemüll wurde erst sehr spät aktiv reguliert. Dass einfaches Ablagern und Verklappen damit nicht funktioniert, wurde zunächst ignoriert.
Konsequenzen und Lösungen
Das Buch ist ein riesiger Fundus an Beispielen, mit denen Köster nicht nur die Geschichte vom Abfall erzählt, sondern auch die Konsequenzen der verschiedenen Entwicklungen zeigt. Über 420 Seiten hat das Buch – schon auf Seite 318 starten die Quellen und Belege. Wer so tief in die Geschichte des Abfalls eintaucht, kann das Buch natürlich nicht ohne ein paar Ideen dazu beenden, wie sich Menschen, Städte und Länder aus der misslichen Lage herausmanövrieren können. In einem Epilog diskutiert Roman Köster die beiden Alternativen: technische Lösungen oder ein anderer Umgang mit Konsum.
So stellt er klar, dass ein Endverbraucher durch verändertes Konsumverhalten maximal 20 Prozent des Abfalls einsparen könne. Das bedeute nicht, Konsumenten aus der Verantwortung zu nehmen – die Zahl zeige vielmehr, dass die Weichen an anderer Stelle gestellt werden müssten. Ein Wirtschaften, dass auf Ertrag, Effizienz und Bequemlichkeit basiert, erzeugt alleine schon deshalb Müll, weil es auf zahllose Verpackungen angewiesen ist, bei denen die viel beschworene „Reparatur“ sinnlos ist.
Die Müllgeschichte könne zwar keine Anleitung zur Müllreduzierung sein, aber sie helfe, das eigentliche Problem besser zu definieren. Güterknappheit gebe es zumindest für uns keine, dafür aber ist eine gesunde Umwelt knapp geworden oder die Fläche, auf der wir Müll überhaupt noch loswerden können, ohne weiter zu kontaminieren. Und die viel beschworenen technischen Lösungen? Sind hier fehl am Platz, schließt Köster. Das Buch lässt uns am Ende ahnen, warum.
Das Buch ist für den deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert:
Bibliografische Angaben
Verlag: C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-80580-6
Deutsche Erstveröffentlichung: 2023
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