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Holm Friebe, Detlef Gürtler – Clusterfuck

Holm Friebe, Detlef Gürtler – Clusterfuck

Holm Friebe, Detlef Gürtler - Clusterfuck

Wir haben femtosekundengenaue Atomuhren erfunden, aber die Zeit bis zur nächsten Katastrophe ist nicht messbar.

Als ich erzählte, welches Buch ich gerade lese und worum es geht, war die erste Reaktion: „Ich habe den Eindruck, wir stecken gerade in einem solchen Clusterfuck“. Politisch läuft etwas zu viel aus dem Ruder; zu viel Nationalismus, zu viel Gewalt, zu wenig gesunder Menschenverstand — und vom Klima ist in dieser Aufzählung noch kein Quäntchen dabei. Holm Friebe und Detlef Gürtler würden diesen Eindruck vermutlich sofort bestätigen. Sie haben sich in „Clusterfuck“ ausgiebig mit der Frage befasst, warum uns auf staatlicher, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Ebene unvorhersehbar plötzlich alles aus den Händen gleiten kann.

Unser Instinkt trügt uns nicht

Tatsächlich liegen wir in der Regel richtig, wenn wir – egal auf welcher Ebene – solch einen Eindruck gewinnen. Denn, so das Autorenduo, es gibt unvermeidlich immer einen Punkt, an dem sich Inkompetenz, Kommunikationsprobleme oder komplexe Umgebungen übel auswirken (oder mehrere Aspekte zusammen). So entsteht ein Chaos, das die „Lösungskompetenzen aller Beteiligten unabwendbar übersteigt“.

Friebe und Gürtler zeigen mit vielen realen Clusterfucks, wie das große Scheitern jeweils aufgebaut wurde und schaffen damit die Grundlagen dafür, die Katastrophen verständlich zu machen. Wie beim Brexit zum Beispiel. Hier wurde, wie oft bei politischem Geplänkel, eine Drohkulisse aufgebaut. Meist führt so etwas dazu, dass die Beteiligten sich zur Vermeidung grober Konsequenzen dispziplinierter verhalten. In diesem Fall sollte bereits die Existenz einer Abstimmung die Verhandlungsposition der Briten stärken – wenn alle halbwegs rational unterwegs sind jedenfalls. Bekanntermaßen ging das schief: Zu viele Briten hielten sich für eine kleine Minderheit, die bloß für einen winzigen Denkzettel sorgen wollten und so flog das Land tatsächlich aus der EU. Ein Scherbenhaufen, der so nicht gedacht war.

Das kleine Sandkorn im Getriebe

Nicht immer sind es so groß angelegte Problemquellen. Manchmal reichen Details: Die Autoren schreiben zum Beispiel, dass die Ermordung des österreichischen Thronfolgers 1914, die den 1. Weltkrieg auslöste, nur möglich war, weil der Chaffeur eine nicht vorgesehene Route mit dem Auto eingeschlagen hatte.

Die Chancen, kritische Details zu erwischen, wachsen allerdings mit der Zeit, so die Autoren. Hohe Vernetzung und Komplexität fordern ihr Tribut. Je komplexer ein System, desto aufwändiger ist die Problembehebung – so lange, bis die Ressourcen nicht mehr ausreichen. Ein einfaches Beispiel sind unsere Abfälle. Es werden immer mehr, zahlreiche unterschiedliche zudem, verbunden mit immer größerem technischen und finanziellen Aufwand. Bislang sind die Initiativen zur Vereinfachung nicht so weit gediehen, dass sich die Experten entspannen würden. Im Gegenteil sei es keine Frage, ob uns das Problem über den Kopf wachse, sondern nur noch, wann es so weit sei.

Das große Scheitern

„Clusterfuck“ analysiert politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftliche Katastrophen und lässt dabei auch Experten aus unterschiedlichen Bereichen zu Wort kommen. So formt sich Stück für Stück nicht nur das Verständnis dafür, was bei vergangenen Problemen ausschlaggebend war. Die Einschätzungen von Anthropologen, IT-Experten oder Bankern öffnen auch den Blick dafür, wo künftige Fallstricke lauern.

In der Wirtschaft beispielsweise können sinkende Transaktionskosten große Firmen bedrohen, weil computerbasierte Vermittlungen günstiger werden als Personal. Ein anderer Typus Fallstrick sind vergangene Entscheidungen: Es gibt welche, die sich nur unter Schwierigkeiten ändern lassen. Oder gar nicht, wie das QWERTZ-Tastaturlayout. Der Aufwand, dieses zu ändern, wäre so groß, dass man es einfach bleiben lässt.

Dabei wäre Umdenken mitunter einfacher, wie Friebe und Gürtler am Beispiel des Berliner Flughafens BER zeigen. Es habe, so schreiben sie, einen Punkt gegeben, an dem (Teil-)Abriss und Neuplanung billiger gewesen wären als das sture Festhalten am ursprünglichen Plan (ein Interview dazu mit dem im Buch zitierten Experten Dieter Faulenbach da Costa findet sich zum Beispiel beim Deutschlandfunk). Was das verhindert hat, war nicht nur ein verkrustetes Denken oder die unangenehme Aufgabe, Fehler eingestehen zu können. Eine wesentliche Rolle, die uns Probleme schafft, statt sie zu beseitigen, spielen „sunken costs“. Haben wir erst einmal Geld für etwas ausgegeben, mögen wir ein Projekt kaum noch loslassen und nehmen irrational Mehrkosten in Kauf.

Was hilft gegen Clusterfuck?

Ein Buch über Clusterfuck darf natürlich nicht enden ohne einige Tipps, wie sich mehr davon zumindest eindämmen lässt. Wohlgemerkt steht hier nicht „verhindern“, denn: „Wie wir gesehen haben, kommen schwarze Schwäne immer aus der Richtung, aus der man sie nun wirklich nicht erwartet.“ Und der Versuch einer Vorausschau erhöhe paradoxerweise die Verwundbarkeit, weil Scheinsicherheit blind mache.

Die hilfreichen Schlagwörter reichen von Klumpenrisiken entschärfen über Resilienzen aufbauen (die in schlanken, effizienten Organisationen kaum zu finden sind) und Achtsamkeit bis hin zu Einfachheit. Natürlich jedes davon gut mit Bedeutung, Aufbau und Sinn erläutert. Ein Kapitel, das dieses Sachbuch hervorragend abrundet. Mit Katastrophen müssen wir ohnehin rechnen. Wir tun also gut daran, ihnen mit einer gewissen Flexibilität und einem eigenen kleinen Werkzeugkasten entgegenzutreten.

Bibliografische Angaben

Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-25838-9
Erstveröffentlichung: 2018

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