Welches Vorgehen ist in einer Prüfung im Schnitt günstiger: Bei einer einmal gegebenen Antwort zu bleiben oder sie doch noch zu ändern? Eine Auswertung zahlreicher Prüfungen zeigt, dass die Mehrheit der Änderungen aus falschen Antworten richtige macht (ca. 50%) statt aus richtigen Antworten falsche (ca. 25%). Warum ist das so? Denn zweite Antworten sind nicht grundsätzlich besser. Der Clou ist: Die Studierenden nehmen eher ungerne Änderungen vor, sodass sie das letztlich nur tun, wenn sie sich ihrer Sache sehr sicher sind.
Der kleine Einblick in eine spezifische Situation zeigt auf ein Phänomen, was in unserem Alltag viel verbreiteter ist: Wir halten lieber an bekannten Ansichten fest, statt uns mit neuen Sichtweisen auseinanderzusetzen und unsere Ansichten dann womöglich zu ändern: „Wir lachen über Menschen, die noch immer Windows 95 benutzen, halten aber nach wie vor an den Meinungen fest, die wir uns 1995 gebildet haben,“ fasst Adam Grant die Beobachtung zusammen. In seinem Buch „Think Again“ schildert er in drei Teilen, wie Umdenken funktioniert.
Flexibles Denken hat viele Vorteile
Der Untertitel „Die Kraft des flexiblen Denkens“ ist nicht umsonst gewählt: Um diese Kraft zu demonstieren, setzt Grant in seinem Buch stark auf Erfolgsgeschichten, die sich aus dem Umdenken ergeben haben oder umgekehrt auf Misserfolge, die auf unternehmerischer Sturheit beruhen. Apple und Blackberry sind zu Beginn die Stories, mit denen er jene Pole illustriert. Auf der einen Seite Blackberry mit Mike Lazaridis, der sich unter anderem zu lange nicht von der beliebten Tastatur trennen wollten und das iPhone mit dem Multifunktionsfeld hinter Glas für nicht zukunftsfähig hielt. Auf der anderen Seite Apple mit Steve Jobs, der eigentlich nie ein Telefon herstellen wollte, sich von seinen Ingenieuren aber überzeugen ließ, die ungeliebte Funktion in sein Produkt zu integrieren.
Intelligenz wird traditionell als die Fähigkeit zu denken und zu lernen betrachtet. Doch in einer turbulenten Welt könnten andere kognitive Fähigkeiten noch wichtiger sein: die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen.
„Was wir gewinnen, wenn wir unsere Pläne umschmeißen,“ (noch so ein Untertitel) hieß in diesem Fall, nicht nur ein beliebtes Produkt herzustellen, sondern sogar eines, dass seine Konditionen bei allen Anbietern durchdrücken kann, die mit den integrierten Funktionen zu tun haben (Musikanbieter, Telefondienste etc).
Denken wie ein Wissenschaftler
Aufgeteilt ist das Buch in drei Teile, um zu zeigen, wie Umdenken eigentlich geschieht. Im ersten Teil geht es um das individuelle Umdenken. Grant befasst sich mit Denkmustern, die uns unterschiedlich argumentieren lassen. Er nennt die meist üblichen Muster Politiker-, Prediger- und Staatsanwaltmodus. Nur der Wissenschaftlermodus aber sei geeignet, Umdenken auszulösen. Dafür müsse man nicht Wissenschaftler sein, lediglich die Denkweise verstehen. Wie das aussehen kann, zeigt er mit Hilfe von Jean-Pierre Beugoms: Beugoms arbeitet als Prognostiker und gehört in dieser Funktion zu den besten weltweit.
Im zweiten Teil kümmert sich Adam Grant um die Frage, wie man andere Menschen zum Umdenken bewegen kann. Während der Wissenschaftlermodus vorrangig dem Einzelnen beim Umdenken hilft, beschreibt Grant das Gespräch mit Andersdenkenden eher als Tanz. Da mit Meinungen oft Identitäten verknüpft sind, erfordern Debatten ein viel flexibleres Vorgehen. Oft müssen zudem Sterotype überwunden werden. Die teils hitzigen Antipathien, die zwischen den Fans US-amerikanischer Sportvereine herrschen, dienten ihm und anderen Forschern bereits als Experimentierfeld dafür, wie man solche Stereotype überwindet.
Eine entgegengesetzte Meinung zu hören motiviert uns nicht unbedingt, unseren eigenen Standpunkt zu überdenken; es macht es uns leichter, auf unserem Standpunkt zu beharren.
Zu guter Letzt beschreibt „Think Again“, wie man Gemeinschaften für lebenslang Lernende schaffen kann. Es gibt ein Labor, das sich auf schwierige Unterhaltungen spezialisiert hat und Ansätze untersucht, wie man besonders kontroverse Themen kommunizieren kann. Grants Beispiele umfassen aber auch Lehrer, die ganze Lehrbücher umschreiben und in ihren Klassen hervorragende Lernkulturen schaffen.
Praxisnah und lebendig
Die Stärke des Buchs liegt darin, dass zwar Studienergebnisse und Forschungen erklärt werden, die Grundlage aber immer Beispiele aus der Praxis sind. Grant erzählt von einem Schwarzen, der Ku Klux Klan-Mitglieder zum Ausstieg bewegte, von einer Politikerin, die mit einem Rebellenchef verhandelte oder einer Politikerin, die im Wahlkampf aus ihrer unterlegenen Position eine Stärke machte. Warum solche Umdenkstrategien funktioniert haben, fließt laufend in die Erzählungen ein und verbindet Erfolge und Hintergründe sehr schlüssig miteinander. Grant zeigt unter anderem auch, wie sich die bekannten Phänomene Dunning-Kruger-Effekt und Imposter-Syndrom (dessen Existenz inzwischen in Frage gestellt wird, hier also umgedacht wird) auf unsere Entscheidungen auswirken.
Interessant sind vor allem die Details, die Grant in diesen Beispielen zeigt. Bei der Schwierigkeit, über die Klimakatastrophe zu sprechen, hat man es beispielsweise mit mindestens sechs Denklagern zu tun, die von alarmiert bis ablehnend reichen. Selbst die Leugner lassen sich in weitere sechs Kategorien aufteilen. Ein anderes aufschlussreiches Detail betrifft die Ehrlichkeit, mit der wir Fehler eingestehen. Wer kein Problem damit hat, falschzuliegen, hat auch weniger Angst, sich über sich selbst lustig zu machen. Der Teufel steckt im Kleingedruckten: Männer werden dann für tüchtige Führungskräfte gehalten, Frauen für inkompetent. Dabei steckt, so Grant, dieselbe Fehlerkultur dahinter.
Ein Buch über das Umdenken ist freilich nur echt, wenn auch die Erfahrungen des Autors selbst ein Teil davon werden. Adam Grant zeigt, dass „Think Again“ auch Teil seiner Arbeit geworden ist und illustriert das mit Rückblicken auf seine Arbeit. Nur in einem Fall ist er möglicherweise nicht so schnell dahinter gekommen, was er verkehrt gemacht hatte:
Ich werde nie den Ablehnungsbescheid vergessen, den ich einmal erhielt, in dem einer der Gutachter [Anm.: in einem Peer-Review-Verfahren] mich ermunterte, erst einmal das Werk von Adam Grant zu lesen. Ich bin Adam Grant, Alter!
Das Sachbuch schließ ab mit einer Serie von 30 Umdenktipps. Wer das Buch kennengelernt hat, wird sehen, dass es ein Schnelldurchgang der Kapitel ist. Jeder Tipp fasst einen Aspekt zusammen. Für den Alltag ist das eine ziemlich gute Entscheidung, sich noch einmal alles kompakt anschauen oder nachschlagen zu können.
Bibliografische Angaben
Verlag: Piper
ISBN: 978-3-492071352
Originaltitel: Think Again. The Power of Knowing What You Don’t Know
Erstveröffentlichung: 2021
Deutsche Erstveröffentlichung: 2022
Übersetzung: Ursula Pesch
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