Die Schweizer Journalistin Rinny Gremaud interessiert sich für Megamalls — riesige Einkaufspaläste, die Dimensionen in jeder Hinsicht sprengen. Sie entschließt sich zu einer Weltreise und wird innerhalb eines knappen Monats die fünf größten Malls besuchen. In Edmonton, Peking, Kuala Lumpur, Dubai und Casablanca. Alle paar Tage eine andere Zeitzone, eine andere Klimazone und das alles, um die Faszination der Megamalls zu ergründen. Für jede Station plant sie ausreichend Zeit ein, um Manager, Ladenbesitzer und Mall-Besucher treffen zu können. „Verkaufte Welt“ ist ihr Reisebericht dazu.
Bei Gremaud muss man sich auf die Impressionen der Autorin verlassen, die sich, meist im Jetlag schwebend, zwischen Ladenzeilen wachhält und Gespräche führt. Denn die „Verkaufte Welt“ zeigt sich gänzlich unbebildert. Als seien die Mall ihrer neckischen Kulisse beraubt und müssten sich über ihre inneren Werte beweisen. Jene Werte, die Gremaud sucht.
Im Januar 2014 habe ich die Welt umrundet, in westlicher Richtung alle Zeitzonen durchquert, eine davon zweimal. … Es gibt im Französischen den Ausdruck „im Westen sein“, was so viel bedeutet wie „neben der Spur sein“. Ich war 23 Tage dort.
Verschiedene Quellen – eine Einheit
Tatsächlich haben die ausgewählten Malls ganz unterschiedliche Geschichten. Sie beginnen manchmal mit Menschen, die klein anfingen, sich hocharbeiteten und irgendwann den Traum eines Händlers auf die jeweils maximal mögliche Größe pusten konnten. Oder sie beginnen mit Consultants, die Menschen mit ausreichend Kleingeld diverse Investitionen schmackhaft machen. Gremaud hat alle Variationen von Innen gesehen und es ist ein Jammer, dass es ein Bibliotheksbuch ist, so viele geklebte Textmarkierungen muss ich nun wieder herausnehmen.
In Edmonton ersetzt die Mall praktisch die Innenstadt und wer etwas verkaufen will, kümmert sich besser um einen kleinen Laden im klimatisierten Universum, ein All-in-one-Shopping samt Kino und Achterbahn. Rinny Gremaud spürt eine erste große Erkenntnis, nachdem ihr Koffer unterwegs verschollen ging:
Sich 7500 Kilometer von Zuhause problemlos ein Kleidungsstück zu holen, wie man es völlig identisch in seinem Schrank hängen hat, ist eine der faszinierenden und niederschmetternden Erfahrungen, die Globalisierung bereithält.
Gremaud stellt fest, dass die Tourismusbeauftragte der Stadt in ihrer Funktion auch Marketingbeauftrage der Mall sein könnte, so routiniert spult sie die Klaviatur der Argumente herunter, warum die Mall besser ist als es eine funktionierende Innenstadt wäre. Schon auf ihrem Weiterflug nach Peking sinniert die Journalistin darüber, dass sie ein Buch über Monotonie verfassen wird.
Die Welt von der Stange
In Asien sind Malls so gang und gebe, dass sie nichts Besonderes mehr sind. Laufend entstehen neue, aber keiner weiß, wie er die prächtigen Versprechungen der Consultants noch umsetzen soll. Es sind wirklich einfach zu viele, Mall und Consultants gleichermaßen. In Kuala Lumpur schaut sich Gremaud innerhalb von vier Tagen in 11 Malls um und bilanziert am Ende, der Überdruss habe ihren Berufsethos überwogen. In ihrer Erinnerung verschwimmen sie alle, so einförmig und gleich. Fast eine Seite lang listet sie die Unternehmen, die sich überall wiederfinden und jedes Einkauferlebnis so eintönig machen.
Malls wechselten vom Status des sich verwirklichenden Traum eines hart arbeitenden Händlers in den Status von Spekulationsobjekten, die ihren Zenit bereits überschritten haben.
Städtische Kapitulation vor der Macht des Geldes
In jeder Stadt sucht Rinny Gremaud das Gespräch nicht nur mit Mall-Vertretern, sondern auch mit Besuchern und Angestellten. Im Reisebericht klaffen an solchen Stellen unglaubliche Lücken zwischen dem, was die Mall repräsentieren soll, und dem, was die Leute davon haben. Wenig Lohn für die Einen, leere Nachmittage füllen für die Anderen. Und je nach Mall gar Leere, weil an der Lebensrealiät der Menschen vorbei geplant.
Die kommerzielle Landschaft ist ein wesentlicher Teil der physischen Realität, die wir bewohnen. Wenn sich in ihr kein Ort und keine Gemeinschaft mehr ausdrückt, sondern nur noch ein System — das der Ketten und Markenläden, das an uns vorbeigeht und uns ignoriert, für das wir nichts sind und das nichts für uns ist —, dann ist es gleichgültig, ob man hier oder anderswo ist. Oder eben nirgendwo — zum Beispiel im Internet.
Es gibt eingangs ein Kapitel zu Lausanne, dem Wohnort von Gremaud. Er steht etwas verloren, scheint doch so gar kein Zusammenhang mit den Mall zu bestehen. Gremaud schildert darin ihren Verdruss über die lokale Stadtplanung und die „globale Hässlichkeit“, die sie im Stadtgefüge ausmacht. Doch final schließt sich ein Kreis: Nicht nur die Malls sind ein Spekulationsobjekt. Erleichterung darüber, in einer Stadt oder Region ohne Mall zu leben, tritt nicht ein, wenn man Gremauds Gedankenschleife begreift. Selbst das Straßenbild, wie wir es kennen, wird oft genug koordiniert von Immobilienunternehmen, die mit der Stadt nichts zu tun haben.
Städte haben weit weniger mit Stadtplanung für ihre Bürger zu tun als es den Anschein hat (ein kurzer Teaser in diesem Zusammenhang zu diesem Buch: Die Stadt der Zukunft). Wir Menschen sind weit weniger mit den Städten verbunden, in denen wir leben, weniger als wir es mal waren, weniger als wir eigentlich sollten. Eine verkaufte Welt eben.
Bibliografische Daten
Verlag: edition bücherlese
ISBN: 978-3-906-907-33-8
Originaltitel: Un monde en toc
Erstveröffentlichung: 2018
Deutsche Erstveröffentlichung: 2020
Übersetzung: Andrea Spingler
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