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Martina Clavadetscher – Die Erfindung des Ungehorsams

Martina Clavadetscher – Die Erfindung des Ungehorsams

Martina Clavadetscher - Die Erfindung des Ungehorsams, auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis 2021

Wie auch Michael Hugentobler steht Martina Clavadetscher mit ihrem zweiten Roman auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis. Und mit ihrem zweiten Roman schafft sie das zugleich zum zweiten Mal, denn bereits ihr Debut Knochenlieder war 2017 nominiert. Eigentlich schätze ich das schon als starken Hausvorteil für die Autorin und Dramatikerin ein.

Die Erfindung des Ungehorsams dreht sich um drei ganz unterschiedliche Frauen. Da ist Iris, die in einem New Yorker Penthouse lebt und auf den Abend wartet. Der verspricht Abwechslung, da sie endlich wieder Geschichten erfinden darf. Da ist Ling aus einer Großstadt der chinesischen Provinz Guangdong, die in einer Fabrik für Sexpuppen die noch kopflosen Körperrohlinge auf Fehler untersucht. Und da ist Ada Lovelace, die Mathematikerin, mit ihrem frühen und untrüglichen Gespür für Automaten und Algorithmen. Wie sie zusammenhängen? Das verknüpft Martina Clavadetscher so raffiniert, dass die Grenzen zwischen der erzählerischen Realität und der Rätselhaftigkeit ihrer Erzählung verschwimmen.

Verschachtelt, verästelt, verrätselt

In der Praxis gehen Iris, Ling und Ada sehr einfach auseinander hervor: Iris erzählt abends eine Geschichte, in der sie von Ling und ihrer Arbeit erzählt. Sie nennt Ling eine „Halbschwester“, ohne zu erklären, wie sie darauf kommt. Ling wiederum lernt Ada in einer Erzählung kennen, die sie in der Fabrik hört. Doch diese einfache Struktur ist mit zahlreichen Anspielungen und Verästelungen verbunden und sprachlich fordert der Roman mit Flattersatz heraus. Experimentell auf vielen Ebenen und doch flüssig und lebendig zu lesen.

Wir suchen alle nach Erklärungen, und wir tun das in unserer Vergangenheit, weil es der einzige Ort ist, wo wir suchen können. Die Gegenwart und die Zukunft sind entweder zu nah oder zu undeutlich.

Der Roman mischt über Figuren und Struktur die künstliche Intelligenz zusammen mit der schon alten Phantasie der Menschen, sich Helfer zu schaffen. Lings Sexpuppen sind nur die modernste Variante davon. Martina Clavadetscher lässt über die Geschichte zu Ada Lovelace ganz frühe automatisierte Puppen und ihre Programmierung einfließen. Und über die zahlreichen Anspielungen im Text geraten nicht nur noch ältere Versionen dazu, sondern auch weniger harmonische.

Fluch und Segen der menschenähnlichen Wesen

Die Abendgäste von Iris zum Beispiel heissen Godwin und Wollstone. Zwei Namen, die in Buchvorstellungen schon öfter identifiziert wurden und von den Eltern der Schriftstellerin Mary Shelley stammen — der Schöpferin von Frankenstein. Lings vollen Namen Ling Olem könnte man in LIN Golem zerlegten. Hier steckt der Golem, ein Wesen aus Lehm, das Aufträge ausführen sollte. Erweckt durch eine rituelle Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Und wieder: Ein Bezug zur künstlichen Intelligenz, mit der in Lings Fabrik die allerneueste Generation von Puppen gefüttert wird, und der visionären Arbeit von Ada Lovelace für automatisierte Rechenoperationen.

Clavadetschers Roman erinnert mich in seiner mehrschichtigen Struktur oft an die Pixeltänzer von Berit Glanz. Auch so ein wunderbarer Roman, von dem man weiß, dass es permanent Referenzen gibt, die man finden will und denen man vermutlich auch nach längerer Zeit nicht ganz auf die Schliche kommt.

Zwiebelgeschichteter Roman

Martina Clavadetschers Roman fordert mich jetzt noch heraus. Habe ich alles verstanden oder werde ich in einigen Tagen oder Wochen noch Puzzlestücke zusammenfügen? Mir gefällt das enorm: Den spielerischen Roman einerseits mit Genuss abgeschlossen zu haben und andererseits zu wissen, dass ich rückblickend noch Ebenen finden könnte. Dazu gehört auch, dass Die Erfindung des Ungehorsams auf eine ganz selbstverständliche Art die Rolle der Frau in der Gesellschaft thematisiert. Man schaue sich nur die Personalentwicklung in Lings bevorzugtem Imbiss an. Dazu gehören kleine Seitenhiebe auf die Überwachung. Was in den Puppen die Kommunikation mit dem Besitzer ermöglichen soll, könnte in Lings kleiner Wohnung zur Bewertung ihres Punktestands eingesetzt werden. Und ganz am Ende fliegt uns die erzählerische Realität noch einmal richtig um die Ohren, als angenommene Rollenverteilungen plötzlich auf dem Prüfstand stehen. Sind wir Martina Clavadetscher auf einen besonders flirrenden Leim gegangen oder nicht?

Was den Schweizer Buchpreis angeht, hat sich Clavadetscher (zumindest unter den bisher gelesenen drei Titeln) soeben mit ihrem Roman in meiner persönlichen Favoritenliste nach vorne katapultiert.

Dachtet ihr wirklich, ich würde nie,
gar nie etwas ganz Eigenständiges hervorbringen?!

Bibliografische Angaben

Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-00565-5
Erstveröffentlichung: 2021

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