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Peter Hänni – Boarding Time

Peter Hänni – Boarding Time

Peter Hänni - Boarding TimeFlughafen Kapstadt, Gate 43. Caruso, Fredi, Röbi und Steiner wollen nur eines: so schnell wie möglich zurück in die Schweiz. Doch der Zeiger an der Wand schleicht und schleicht, als hätte das Uhrwerk Rost angesetzt. Zwei Wochen zuvor sind sie nach Südafrika geflogen, um mit einer Harley-Tour ihren 55. Geburtstag zu feiern. Aber die Herrlichkeit nahm ein abruptes Ende: Seit die Kellnerin ihres Hotels tot aufgefunden worden ist, sitzt den Freunden nicht nur die Polizei im Nacken. Ist einer von ihnen ein Vergewaltiger und Mörder? Ihre langjährige Freundschaft bekommt mehr und mehr Risse.

Rezension

Fünf Freunde starten ihr Geburtstagsgeschenk in Kapstadt: Eine gemeinsame Harley-Tour durch Südafrika. Am Ende sitzen vier davon zermürbt am Gate des Flughafens und wollen nur noch eines. Weg. Weg aus Südafrika, weg von den anderen.

Dieser Alptraum beginnt sieben Tage vor der Abreise. Einer der Freunde wird von Kriminellen niedergestochen und ringt auf der Intensivstation um sein Leben. Der Überfall geht an die Substanz. Warum hat man den Freund alleine ziehen lassen und wer bleibt im Land, falls er nicht rechtzeitig transportfähig ist? Und wie verbringt man die restlichen Tage, wo man doch eigentlich zum Motorrad fahren da ist? Kurz nach dieser Hiobsbotschaft kommt eine zweite: Die Kellnerin des Hotels wurde vergewaltigt und ermordet. Der Fundort der Leiche lässt keinen Zweifel zu: Es muss einer der Biker gewesen sein.

Der Rest der Reise verkommt zu einer Tortur. Drehten sich die Gedanken der vier Biker zunächst nervös um ihren schwer verletzten Freund, bedrohen danach Misstrauen und Verbitterung die Tage. Der ungeheure Vorwurf belastet die Freundschaft aufs Äußerste. Kann es sein, dass man sich so schlecht kennt? Die dicke Freundschaft, die vor rund 40 Jahren begonnen hatte, hat sich über die Jahre mit den Männern verändert. Sie sieht heute etwas anders aus und verkraftet die Herausforderung nicht mehr. Für eine nette Geburtstagsreise reicht es, für die Ehrlichkeit angesichts eines Gewaltverbrechens bei Weitem nicht mehr. Die erste Fassungslosigkeit weicht Misstrauen und Vorwürfen. Alte Ereignisse werden vorgekramt, man erinnert sich gegenseitig an Verantwortung und flüchtet gleichzeitig aus der eigenen. Als herauskommt, dass es inzwischen durchaus Geheimnisse gibt, die der eine oder andere vor den Kumpels verbirgt, reicht die aggressive Stimmung nicht mehr für Verständnis. Jede Fehlbarkeit gilt nur noch als Verrat.

Peter Hännis Erzählung zieht den Leser in den Abgrund der bröckelnden Freundschaft und lässt hautnah erleben, was passiert, wenn alte Loyalitäten brechen. Es fasziniert, wie ihm das mit teils wenig Worten und hervorragend geführten Dialogen gelingt. Diese direkte Art, der kurze Weg zum Eklat macht die Lektüre besonders intensiv.

Augerechnet Lüthi, der im Krankenhaus liegt, stellt sich im Lauf der Erzählung als ausgesprochen loyaler, selbstloser und hilfsbereiter Mensch heraus. Jeder der anderen vier hat von ihm profitiert, durch vermittelte Praktika, finanzielle Hilfe, die Lebensrettung auf der Kanutour. Für den Leser geht es damit um weit mehr als die Frage, wer hinter dem Mord steckt; er lotet gemeinsam mit den Protagonisten selbst aus: Kann so jemand wie Lüthi zu solch einer Tat fähig sein? Wie weit geht man mit einem so guten Menschen und Freund, wenn er unter einen solchen Tatverdacht gerät? Die Atmosphäre, ohnehin tief vergiftet, eskaliert endgültig, als es Neuigkeiten zum Mord an der Kellnerin gibt und der ätzende Reigen an Verdächtigungen ganz neu aufbricht.

In dem Augenblick, in dem man die letzte Zeile gelesen hat, schlägt der gesamte Roman richtig ein. Der perfekte letzte Satz. Das vollständige Begreifen. Die Fassungslosigkeit über das entdeckte Gesamtbild. Es gibt wenig Romane, die einen packen und nicht mehr loslassen. Nicht nur der Spannung wegen, sondern auch des Stils wegen. Boarding Time ist so ein Buch und -da ich diese Rezension gegen Ende des Jahres 2015 schreibe- auch einer der persönlichen Höhepunkte des Lesejahres.

Bibliografische Angaben

Verlag: Cosmos
ISBN: 978-3-30500-432-4
Erstveröffentlichung: 2014

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