Amélie geht für ein Jahr nach Tokyo, um für ein japanisches Unternehmen zu arbeiten. Bei Yumimoto hat sie sich als Dolmetscherin beworben und muss sich nun nach oben arbeiten. Mit Dolmetschen hat ihre Arbeit nämlich noch nichts zu tun. Amélie serviert Gertränke und hat die Gewohnheiten der Kollegen bald im Griff. Ihre sehr guten Japanischkenntnisse allerdings, die sie qualifizieren sollen, hätte sie ausgerechnet beim Besuch einer auswärtigen Firma nicht benutzen dürfen. Von einer Ausländerin sprachlich perfekt bedient zu werden, hat die Gäste eher verschreckt als begeistert. Sie bekommt Servierverbot und befasst sich nun mit dem täglichen Umblättern aller Kalender im 44. Stock.
Das geht so lange gut, bis die Abteilung Milchprodukte um ihre Mithilfe bittet. Amélies Leistung dort ist ausgezeichnet, aber leider ohne Wissen ihrer Vorgesetzten erfolgt. Solch eine Missachtung der Hierarchien wird in Japan streng geahndet. Amélie fliegt aus ihrem Aufgabenbereich und muss in die Buchhaltung, etwas, das ihr überhaupt nicht liegt.
Beim Umgang mit Zahlen „mit mehr als vier Nullen“ und anderen Aufgaben geht für Amélie so ziemlich alles schief, was schief gehen kann. Auf Seiten ihrer japanischen Vorgesetzten Fubuki Mori gibt es nur leider kein Einsehen, sondern jedes Mal eine Strafe. Auch dann, wenn die Fehler nicht rechnerischer Natur sind, sondern Fehltritte im fein justierten und komplexen Regelsystem der Gesellschaft. Nach nur fünf Monaten endet der Versetzungsmarathon von Amélie in der Toilette zum Wechseln der Rollen und Handtücher. Doch selbst da kann sie sie ihrer Vorgesetzten noch Schande machen: Die fehlbare Europäerin kündigt keineswegs sofort und beleidigt, sondern zieht die restlichen sieben Monate ihrer Dienstzeit gelassen und würdevoll durch bis zum Schluss.
Die junge, abenteuerlustige Amélie, das alter ego der Autorin, wagt sich mit einer gewissen Portion Naivität und mit verklärten Erinnerungen an das Japan ihrer Jugend in berufliches Neuland. Nothomb wurde in Kōbe geboren, verbrachte einige Jahre ihrer Kindheit dort und kam als junge Frau zurück, um in Japan zu arbeiten. Doch die fabelhafte Arbeitswelt, die sie sich erträumte, hat nichts mit den herrlichen Erinnerungen zu tun, die Amélie prägen. Sie kopiert tagelang die Golfstatuten für einen Vorgesetzten, aber nicht etwa, weil er sie bräuchte. Es ist schlicht der erste Schritt, sie in die Mühlen eines erbarmungslos hierarchischen Systems einzuarbeiten. Diese Struktur fodert sie doppelt: Als Frau und als Ausländerin. Als Frau steht sie in der Hierarchie unten und ihr Leben ist von unumstößlichen Konventionen reguliert. Selbst diejenige, die sich in das Korsett einpasst, kann nur scheitern. Als Ausländerin steht sie irgendwie noch weiter unten. Die Westler sind unterlegen, weil sie alles anders machen, anders denken, anders reden, anders miteinander umgehen – und somit grundsätzlich falsch.
Wer sich auf Nothomb einlässt, erlebt eine Tour durch alle Gefühlslagen. Von entsetzt bis belustigt, amüsiert bis erstaunt. Die Strukturen der Geschäftswelt fasst Amélie am Ende folglich etwa so zusammen: Japan ist das Land mit der höchsten Suizidquote. Mich wundert daran nur, dass die Selbsttötung nicht noch häufiger ist.
Aber sie versteht es, der Kultur der Unterwerfung mit Humor und Leichitgkeit zu begegnen. Nothomb lässt ihre Amélie nach einigen durchgeackerten Nächten herrlich ausflippen. Bei ihrer Kündigung, die sie trotz des ohnehin auslaufenden Vertrages formgerecht ausführt, treibt sie das Spiel der Selbsterniedrigung bei Fubuki Mori derart ins Absurde, dass sie nur als Siegerin aus dem Gespräch gehen kann. Wer die japanischen Strukturen näher kennen gelernt hat, wird sich über viele Szenen gar nicht so sehr wundern. Dennoch müssen sie einfach so brilliant erdichtet sein, dass man sie für bare Münze nimmt. Oder doch nicht? Die Grenzen zwischen literarischer Übertreibung und hart regulierter Realität verschwimmen.

Fritzi Haberlandt passt obendrein als Sprecherin hervorragend zu Amélie Nothombs autobiografischem Ausflug. Ihre junge Stimme scheint zu der neugierigen Nothomb selbst zu gehören, die sich auf das Abenteuer Yumimoto so unverdrossen einlässt und am Ende stolz und um eine Erfahrung reicher nach Belgien zurück zu kehren. Nothomb schließt mit einem detaillierten Rückblick ab, der das Datum ihres Aufenthalts genau eingrenzt und den Beginn ihrer Laufbahn als Schriftstellerin markiert. Das Buch über ihr Arbeitsjahr wird aber erst einige Jahre später erscheinen. Nach ihrer Rückkehr erscheint 1992 zunächst „Die Reinheit des Mörders“. Ein Buch, für das sie sogar eine überraschende Reaktion aus Tokyo erhält …
Bibliografische Angaben
Verlag: Hörbuch Hamburg
ISBN: 978-3-89903-720-3
Originaltitel: Stupeur et tremblements
Erstveröffentlichung: 1999
Deutsche Erstveröffentlichung: 2000
Übersetzung: Wolfgang Krege
gelesen von Fritzi Haberlandt
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