Der junge Washington „Wash“ Black, ein Bub von etwa zehn oder elf Jahren, lebt als Sklave auf einer Plantage auf Barbados. Er wurde bereits auf der Plantage von einer Sklavin geboren, aber er kennt seine Mutter nicht. Alles, was er von klein auf über sein Leben weiß ist, wie die harte Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern funktioniert. Sein einziger Halt ist die ältere Sklavin Big Kit, die auf ihn achtet und streng in die Gepflogenheiten einweist. Big Kit kennt noch eine Zeit vor ihrer Gefangennahme und will in die Freiheit zurückkehren. Wash und Big Kit wissen, dass sich das nur durch ihren Tod bewerkstelligen lässt. So träumen sie gemeinsam und hätten nichts dagegen, die Sache etwas zu beschleunigen.
Und so fing es an: mit Big Kit und mir, die dabei zusahen, wie die Toten die Freiheit fanden.
Nach dem Tod des früheren Besitzers übernimmt dessen Verwandter Erasmus Wilde die Faith-Plantage. Für die Sklaven beginnt eine neue Ära: Wilde attackiert die Sklaven weitaus aggressiver als sein Vorgänger. Er tauscht die Aufseher aus und lässt seine Unbeherrschtheit am Personal aus. Wer nicht pariert, stirbt. Unmenschlich wortwörtlich, denn Sklaven gelten den britischen Kolonialherren als Ware. Einzig Christopher “Titch” Wilde, der Bruder des Master, weicht vom unbarmherzigen Umgangston ab.
Im Dienst der Forschung
Eben jener Titch sorgt für eine bedeutende Änderung in Washs Leben. Er schwatzt den Sklaven seinem Bruder ab, um mit ihm als Gehilfen Forschung treiben zu können. Fortan wandert Wash Insekten und Blumen sammelnd durch die Natur. Er hilft bei Messungen und Berechnungen und unterstützt Titch beim Bau eines Heißluftballons. Doch das eigentlich Besondere geschieht, als Titch merkt, wie gut Wash Zeichnen kann. Er lehrt ihn Lesen und Schreiben und fördert seine Zeichenkünste. Für damalige Verhältnisse unerhörte Kenntnisse, die einem Sklaven nicht einmal ansatzweise zustanden. Doch Titch profitiert so sehr von Washs Fähigkeiten, dass er sich darüber hinwegsetzt.
Ein schwerer Unfall und ein Selbstmord auf der Plantage verändern Washs Leben dramatisch. Er flüchtet mit Titch und bewegt sich ab dann jahrelang als Verfolgter. Erasmus Wilde begreift Titchs Flucht mit Wash als Diebstahl und setzt ein Kopfgeld auf den Sklaven aus.
Mysteriöse und wilde Reiseziele
Die Kanadierin Esi Edugyan mischt in „Washington Black“ historische Abläufe munter mit fantasievollen Wegen ihrer Protagonisten. Da stehen auf der einen Seite die grausamen Bedingungen auf der Plantage, auf der anderen der sonderbare Forscher mit dem komischen Fluggerät. Sie kombiniert den begabten Wash im Schutz des englischen Landadels mit den realen Risiken seiner Fluchtroute: Obwohl die Sklaverei in immer mehr Ländern verboten wird, streifen weiterhin illegale Sklavenhändler durch die Gegend. Wash muss immer damit rechnen, entweder ihnen zu begegnen oder dem Kofgeldjäger, der in Erasmus Wildes Auftrag hinter ihm her ist.
Wash reist in die Arktis, nach Kanada, London, nach Nordafrika … Edugyan tischt einen wahrlich üppigen Abenteuerroman auf. Nicht zuletzt durch die Titelgestaltung drängt sich ein Vergleich mit Jules Verne auf, später schimmert ein Stück Wildwestroman durch und natürlich immer wieder frühe Wissenschaften bzw. Wissenschaftsgeschichte (wobei ich sicher nicht darauf wetten würde, dass diese Aspekte historisch verbürgt sind). Es dauerte ziemlich lange, bis mir der Roman weitere Schichten zeigte.
Offenes Ende, viele Anknüpfungspunkte
Im Gegenzug bleibt der Roman im Kopf hängen. Erst im letzten Drittel verändert Esi Edugyan die Struktur spürbar, so dass einige Szenen auch aktuelle Probleme reflektieren. Dass Szenen als Parabel funktionieren. Dazu gehört zum Beispiel die Entwicklung einer eigenen Identität. Die kommt mit dem Ende der Sklaverei nicht automatisch: Wash sucht über einige Wochen nicht nur Titch, sondern vielmehr sich selber. Wer ist er, wenn er auf sich selbst angewiesen ist? Wenn er theoretisch alles machen kann und praktisch dennoch vor unzähligen Schranken steht?
„Du hast mich aufgenommen, weil ich deinen politischen Zwecken diente. Weil ich dir bei deinen Experimenten helfen konnte. Darüber hinaus hatte ich keinerlei Nutzen für dich … Du warst mehr darum besorgt, dass die Sklaverei einen moralischen Makel auf den Weißen hinterließ, als um die tatsächliche Zerstörung, die sie unter den Schwarzen anrichtete.“
Im Erscheinungsjahr brachte vermutlich genau diese Themenmischung den Roman in die Schlagzeilen: Unter den vielen Motiven findet fast jeder einen Anker, über den die Story für ihn funktioniert. Und so stand Esi Edugyan mit ihren Buch auf der Shortlist des Booker Prize; sie gewann den Giller Prize (zum zweiten Mal übrigens) und Barack Obama zählt „Washington Black“ zu seinen Lieblingstiteln des Jahres.
„Die Mischung macht’s“ gilt auch für mich, die ich sonst wenig mit historischen Stoffen zu tun habe und auch sonst eher wenig damit anfangen kann. Es sein denn eben, es gibt einen ersten Anker und der war bei mir möglicherweise dieses Luftschiff (später fortgesetzt mit einem Aquarium) …
→ Bei „Lesen in vollen Zügen“ findet ihr ein Interview mit Esi Edugyan.
Bibliografische Daten
Verlag: Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0665-0
Originaltitel: Blind gudinne
Erstveröffentlichung: 2018
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Anabelle Assaf
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