Vor rund zehn Jahren arbeitete Jack Swyteck für das Freedom Insitute, eine Gruppe von Anwälten, die sich aus Idealismus auf Revisionen der Todesstrafe spezialisiert hatte. Inzwischen ist er erfolgreich als Strafverteidiger mit anderen Aufträgen selbständig, kehrt aber als Mieter an seine frühere Arbeitsstätte zurück. Dank Swytecks Miete kann das Institut ein paar seiner laufenden Kosten zahlen. Kaum eingetroffen, gerät er an eine Fall wie früher. Allerdings mit einer ungewöhnlichen Auftraggeberin: Statt eines Verurteilten beauftragt ihn die Mutter eines Opfers.
Debra Burgette bittet Swyteck, das Todesurteil des Verurteilten Dylan Reeves aufzuheben. Burgettes Tochter wird vermisst und ihre letzten Spuren finden sich in Reeves‘ Auto. Die Argumentation der Mutter ist einfach: Ihre Tochter Sashi lebe noch und rufe ein Mal jährlich an. Folglich könne Reeves nicht wegen Mordes verurteilt werden.
Außer Debra glaubt aber niemand daran, dass Sashi wirklich lebt und eine Neuafnahme des Verfahrens ist mangels neuer Beweise nicht drin. Swyteck informiert sich und konstruiert einen juristischen Hebel dank einger Fehler im damaligen Verfahren. Stimmt Debras Einschätzung, könnte er Reeves zwar nicht aus dem Gefängnis holen, jedoch sein Leben retten. Je mehr er sich mit dem Fall befasst, umso weiter entfernt er sich von jener Realität, die man damals beim Prozess gegen Reeves noch für bare Münze genommen hatte.
Gibt es irgendjemanden in diesem Gerichtssaal, der die Wahrheit sagt?
Was wird gesagt, was wird verschwiegen?
Was man damals aus Rücksicht gegenüber den Eltern kaum vor Gericht breit getreten hatte, könnte heute den Weg zur Lösung bereiten: Sashi litt schwer unter RAD (Reactive Attachment Disorder), einer reaktiven Beziehungsstörung. Sie kollidierte regelmäßig mit Schulen oder Kursleitern und machte der Familie das Leben schwer. Möglicherweise war der Slip in Reeves‘ Auto ein aus falscher Rücksicht falsch bewerteter Beweis.
Zugleich bewegt sich Jack Swyteck mit seinem habeas corpus-Antrag in recht engen juristischen Bahnen und er kann nicht beliebig Zeugen oder Beweise herbeischaffen. Was er tut, muss zum Antrag passen. Während Ermittlungen in alle Richtungen erfolgen können, muss Swyteck eine gezielte Strategie aufbauen und hoffen, dass sie zum Ziel führt. Was vom Antrag abweicht, könnte ihm vor Gericht um die Ohren fliegen: „Einspruch“. „Einspruch stattgegeben“.
Grippandos zwölfter Band um James Swyteck verbindet gekonnt einen Kriminalfall mit den streng reglementierten Verfahren vor Gericht. Grippando war selbst Strafverteidiger, bevor er Buchautor wurde. Er kann das Geschehen vor Gericht also nicht nur flüssig schreiben. Er weiß auch, wo er dem Leser die Taktiken, rechtlichen Grundlagen oder Denkmuster der Juristen erklären muss. In diesem Buch gibt es keine Sätze wie: „Er hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben.“ Die Anwälte hier sind Schnelldenker und auf Zack.
Die eiserne Regel lautete, im Kreuzverhör niemals eine Frage zu stellen, deren Antwort man nicht bereits kannte. Wissen und Vorbereitung waren das Kontrollinstrument eines Strafverteidigers, wenn er es mit einem Zeugen der Gegenseite zu tun hatte.
Was bei „Vor der Wahrheit“ bestens in die Spannung hineinspielt, ist die Art, Kapitel aufzubauen. Grippando schreibt recht kurze Kapitel und jedes Mal wechselt der Protagonist. Und jedes Mal steckt er einen Brocken Information dazu. „Leere“ Kapitel mit zum Beispiel netten Privatabenden gehören an keiner Stelle dazu. Das fordert geradezu zum Lesen heraus, man will unbedingt wissen, wie es weitergeht – bei jedem einzelnen Handlungsstrang. Denn Grippando versteht es, so ziemlich jeden in Zweifel zu ziehen, der mit Sashi Burgette zu tun hatte. Am Ende löst er seinen Auftrag von Debra Burgette so, wie es Richter Frederick geraten hatte:
„Aus juristischer Sicht jedoch ist das einzige Argument, das Ihnen bleibt, das jemand anders als Dylan Reeves der Mörder von Sashi Burgette ist.“
Bibliografische Angaben
Verlag: Harper Collins
ISBN: 978-3-95967-642-7
Originaltitel: Gone again
Erstveröffentlichung: 2016
Deutsche Erstveröffentlichung: 2017
Übersetzung: Marco Mewes
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