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Bleisatz

Literatur, Rezensionen & mehr

Doris Knecht – weg

Doris Knecht – weg

Heidi und Georg haben schon lange nicht mehr richtig miteinander zu tun. Sie verbindet ein gemeinsames Kind, Lotte, doch für so unterschiedliche Menschen war Lotte kein Grund, zusammen zu bleiben. Heidi zog mit ihrer Tochter in eine kleine Vorstadt bei Frankfurt; Georg wurde zum Ferien- und Wochenendvater. Georg selbst ging weg aus Wien und übernahm im Umland das Landgasthaus seiner Eltern. Beide haben längst neue Partner, Lotte ist Studentin in Berlin.

Eines Tages verschwindet Lotte von der Bildfläche. Sie ist „weg“. Das wäre kein allzu großes Ding, wäre Lotte nicht abhängig von Medikamenten. Sie leidet an einer Psychose, die sich in der Vergangenheit als lebensgefährlich erwies. Außerhalb der gewohnten Bahnen könnte es für Lotte wieder gefährlich werden. Nach hartnäckigem Herumfragen kommt heraus: Sie ist mit ihrem neuen Freund nach Asien geflogen. In großer Sorge raufen sich Heidi und Georg zusammen, reisen Lotte nach Vietnam hinterher.

Das unwahrscheinliche Paar

Doris Knecht zeigt mit Heidi und Georg zwei Menschen, die gar nicht zusammenpassen: Hier die strukturierte Frau, die sich kaum nach Wien, raus aus ihren üblichen Mustern getraut hatte. Dort der Wirtssohn, der das Leben in vollen Zügen genießt und froh um das üppige Stadtleben ist.

Er hatte ein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Unstetheit, das Heidi nicht nur fehlte: Sie verstand, könnte man sagen, die Frage nicht einmal.

Doch die großen Unterschiede zwischen ihnen in allem, in Ansprüchen, Lebenszielen, ihrem Wesen, fielen erst einmal nicht auf. Für eine Affäre war es OK und wäre Heidi nicht schwanger geworden, wüssten die beiden heute nichts mehr voneinander. So aber bleiben sie verbunden; Georg genießt sogar die Zeit mit seiner Tochter und hätte sie gerne näher bei sich gehabt. Heidi jedoch muss wieder zurück in ihre alte Spur und zieht zurück nach Hessen.

Did you imagine it in a different way?

Ohne es zu wollen, ist das Leben quasi in eine Richtung abgebogen, in die Heidi und Georg gar nicht geblinkt hatten. Lea, Georgs jetzige Frau, hört im Autoradio einen Song mit einer Zeile, der perfekt alles zusammenzufassen scheint, was ihnen seit den Jahren als junge Erwachsene wiederfahren ist: Did you imagine it in a different way? Dabei ist Lea unter all den Figuren eigentlich jene, die sich in die Veränderungen noch am besten und mit der größten Energie eingefunden hat. So souverän, wie sie ihre Rolle als Wirtin akzeptiert und übernommen hat, bekommt das sonst kaum einer im Buch hin.

Heidis Ehe bröckelt einem Ende entgegen; bei ihren Freundinnen sind die Ehen teils schon längst gelaufen. Midlife Crisis wo man hinguckt. „weg“ ist ziemlich viel, wenn man genau hinschaut. Georg wiederum spürt in der Krise, wie sehr ihm die kleine Lotte eigentlich gefehlt hat. Mit Heidi hätte es nicht geklappt, mit Lotte aber schon — für den Mann, der eigentlich alles easy haben wollte, eine überraschende Erkenntnis.

Der harmlose Joint, das war einmal

Während ihrer Lesung im Bodmanhaus, dem Literathurhauses des Kantons Thurgau, verriet Doris Knecht, dass ihr das Thema Drogen in diesem Buch ein besonders wichtiges Anliegen war. Die vermeintlich harmlosen Joints unter Jugendlichen wachsen sich (nicht nur) in Wien zu einem großen Problem aus. Viele Jugendliche leiden an Psychosen, eine ganze Reihe unter ihnen ist lebenslang auf medizinische Hilfe angewiesen. Deshalb hat die „substanzindizierte Psychose“ von Lotte auch eine aufklärende Bedeutung im Buch. Zufällig kurz nach der Lesung veröffentlichte die NZZ einen Artikel zu diesem Thema (Paywall / blendle), der die Gefahr verdeutlicht.

Cannabis ist nicht gleich Cannabis, die heutige Droge ist mit der früheren nicht zu vergleichen. Deshalb seien die Erkenntnisse, die in den vergangenen Jahrzehnten zur Wirkung von Cannabis gesammelt wurden, hinfällig, sagen Neurowissenschafter. Über die kurz- und langfristigen Folgen des Cannabis, das heute konsumiert wird, wissen wir praktisch nichts.

Theres Lüthi: Kiffen in der Jugend wird verharmlost, NZZ

Waren in den 1980er und 1990er Jahren rund 3% THC-Gehalt (Tetrahydrocannabiol, Rauschmittel) üblich, waren es 2007 schon 10%. Heute reden wir von THC-Gehalten um 20% (die Werte wurden aus von der Polizei konfiszierten Mengen bestimmt). Gleichzeitig verfügt die Forschung über mehr Knowhow zu den Prozessen der Hirnentwicklung. Man weiß inzwischen, so Lüthi in der NZZ, dass die Cannabiole mit körpereigenen Stoffen konkurrieren und dadurch die Hirnreifung beeinträchtigen. Die Joints unter Jugendlichen fallen just in ein Alter, in dem die Reifung noch nicht abgeschlossen ist. Die ausgelösten Psychosen sind zudem chronisch und aufgrund des hohen THC-Gehalts hat der heutige Joint hohes Suchtpotenzial.

Komplexes Bild, kraftvoll komponiert

Doris Knecht bringt ernste Themen auf den Tisch, ohne jemals den Roman zu überladen. Was den Roman so eindrücklich macht, ist der Tonfall: Knecht kann wunderbar salopp werden, wenn sie in kleinen Szenen und Wortgefechten deutlich macht, wie schräg und uncool unsere Meinungsverschiedenheiten manchmal sind. Das nimmt den Dramen durchaus die Schwere, wenigstens für den Leser.

Ob die Figuren auf ein Happy End zulaufen? Vielleicht. Die Reise nach Asien verändert den einen oder anderen Blickwinkel und möglicherweise geht es so weiter, wie Doris Knecht es sich wünscht: Dass man nicht mehr fragt, ob man noch miteinander leben kann, sondern ob man es noch soll.

Bibliografische Angaben

Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-7371-0038-0
Erstveröffentlichung: 2019

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