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Heinrich Steinfest – Der schlaflose Cheng

Heinrich Steinfest – Der schlaflose Cheng

Heinrich Steinfest - Der schlaflose Cheng

Ferien auf Mallorca. Markus Cheng gönnt sich eine Auszeit. Frühzeitig abreisende Ehefrauen, ein Gespräch an der Bar, das ist halt so. Als eine Schwimmerin nicht wieder auftaucht, lässt er auch das vorüberziehen und die Arbeit die Behören machen. Dass sich nach einiger Zeit doch ein Fall aus diesem Aufenthalt ergibt, kann keiner ahnen.

Aber was hält die Welt mehr zusammen als der Irrtum? Der Irrtum ist die Basis unseres Lebens.

Cheng wird von eben jenem Mann kontaktiert, mit dem er sich an der Bar unterhalten hatten. Er ist der bekannte Synchronsprecher eines noch bekannteren Schauspielers und nach einem Treffen der beiden liegt der Schauspieler tot im Hotel. Nach seiner Festnahme erinnert sich der Sprecher an die Bekanntschaft von der Bar und lässt den Kontakt herstellen.

Die String-Theorie des Krimis

In Krimis gibt es oft das Phänomen, dass ein Fall Verknüfungen zu früher alt. Vorkommnisse jeder Art können so wichtig sein, dass sie Spuren bis ins Heute legen. Steinfest erinnern solche Verknüpfungungen an die String-Theorie: Das Leben bestehe aus unsichtbaren Fäden, die alles zusammenhielten. Physikalisch passt das zwar nicht, aber eigentlich ist es eine interessante Vorstellung. Für den angeklagten Peter Polnitz scheint so ein String seit dem gemeinsamen Absacker in der mallorquinischen Hotelbar zu bestehen. Cheng erscheint ihm als der perfekte Privatermittler, um seine Unschuld zu beweisen.

Legt man Steinfests hauseigene Stringtheorie zugrunde, tastet sich Cheng an weiteren Fäden Polnitz‘ Geschichte entgegen. Dabei spricht tatsächlich alles gegen den Synchronsprecher und nur ein Zufall legt Cheng einen Faden in die Hand, der von anderen übersehen wurde. An dessen Ende hängt wieder eine ganz andere Geschichte, die selbst eine Untersuchung wert ist. Später wird Cheng belehrt, in der Geschichte von Polnitz habe es, mit einer Ausnahme, keine Zufälle gegeben. Alles voller Fäden.

Der Charme des Abstrusen

Chengs Art erinnte mich oft an einen schwebenden Ballett. Die Ernsthaftigkeit des Verbrechens löst sich bei ihm in sanften Nebel auf. Es gibt einen Abschnitt, in dem er für eine literarische Gesellschaft ein Manuskript sucht. Er tut und tut: „Es war Cheng selbst ein Rätsel, wie lange er blieb.“ Ganze zwei Jahre waren es und das kommt so leichtfüßig, als habe Cheng einfach zu seinem Vergnügen ein bisschen mehr Zeit in Schottland verbracht.

Als Detektiv ist Cheng, realistisch betrachtet, eine Niete, literarisch gesehen, ein Panoptikum. Menschen, die ihm begegnen, sehen ihn stets in Begleitung eines Hundes. Als ihn ein Gesprächspartner mit jemand anderem verwechselt, entschuldigt der sich, Cheng hätte ja den Hund dabei gehabt, der andere aber nicht. Den Hund gab es in der Tat, doch der ist längst tot. Statt dessen scheint den Detektiv eine ernst zu nehmende Geisterform zu begleiten.

Portrait eines schwierigen Mannes

Ein Bild just dieses Namens hängt in Chengs Büro. Eine Erbschaft. Wer sieht Cheng so? Die Erblasserin oder der Autor? Der jedenfalls hat zu seiner Figur ein ulkiges Verhältnis. Über ihn las ich einmal, dass Steinfest seinen Detektiv nach dem ersten Fall eigentlich so zu Schaden habe kommen lassen, als wollte er nie wieder mit ihm zu tun haben; es sei etwas Spezielles dass dieser Figur noch mehr Bücher gewidmet worden seien. Und doch ist Der schlaflose Cheng das fünfte Buch.

Wenn Cheng sich mitunter dachte, die Katastrophen seiner mittleren Jahre, die ihm einen Arm gekostet hatten …, wären einer Art von schriftstellerischer Intervention zu verdanken gewesen — vor allem ein Jahre zurückliegender Fall, … so galt das für sein aktuelles Leben rein gar nicht. Man könnte sagen: Er war fertiggeschrieben worden. Wer oder was auch immer einst Interesse daran gehabt hatte, einzuwirken, schien das Interesse verloren zu haben.

Dieses Unbestimmte, das den ganzen Fall prägt, bestimmt doch etwas, und zwar den Charme der Lektüre. Da verstecken sich Schäden, Historie und Auflösung in einer merkwürdigen Verschachtelung von Realem und Surrealem. Mittendrin dachte ich, man müsse an Fred Vargas oder Piere Magnan erinnert sein, aber nein, das trifft es gar nicht. Cheng ist viel zu vage und ganz anders als die zielstrebigen Franzosen. Der Hang zum Abstrusen alleine macht die Ermittler noch lange nicht zu „Geschwistern“.

Cheng wechselt zum Schluss seinen Posten mit der Sekretärin Frau Wolf, die eine exzellente Spürnase hat und Fälle löst, die bei Cheng schon fast verstaubten. Die Vergangenheit von Cheng kennen zu lernen, wäre jetzt eine Option.

Bibliografische Angaben

Verlag: Piper
ISBN: 978-3-492-99331-9
Erstveröffentlichung: 2019

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