Thomas Glavinic – Der Kameramörder

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
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„Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben.“ Ein ganzes Buch lang werden wir den Namen des Erzählers nicht erfahren, der aus seiner Perspektive ein Osterwochenende bei Freunden schildert. Überschattet wird der Aufenthalt durch den Mord an zwei kleinen Kindern am Karfreitag, geschehen ganz in der Nähe. Bereits der perfide Mord gibt den zwei befreundeten Paaren ausreichend Gesprächsstoff über den unsäglichen Charakter des Täters. Kurz darauf erfahren sie nicht nur, dass der Täter seine Tat gefilmt hat und die Aufnahmen gefunden worden sind. Ein deutscher Privatsender will die Bänder sogar im Fernsehen zeigen.

Über weite Strecken spannt sich die Geschichte um die Frage, ob das Fernsehen überhaupt solche Bänder zeigen darf und ob man sich diese Aufnahmen ansehen soll. Während Gastgeber Heinrich von sämtlichen Sondersendungen zu diesem Fall ungeniert begeistert ist, stößt er bei den Frauen auf Kritik. Wenngleich sie sich selber später teilweise an der kombinierten Medienschau von Fernsehen, Teletext und Radio beteiligen, ist ihnen Heinrichs Spott sicher. Der Erzähler selbst zeigt sich eher als Mitläufer. Zugleich wird die Wochenendgesellschaft belastet von der Bedrückung und Fassungslosigkeit, die von den Morden ausgeht und dem Versuch, das Geschehen zu begreifen. Kann man das überhaupt? Und wenn ja, helfen Bilder, das kollektive Gespräch oder Wut?

Die kleine Gesellschaft setzt sich im späteren Verlauf auch mit der Frage auseinander, wie die Menschen auf Verdächtige reagieren und wem man solche Taten überhaupt zutraut. Reflexartig werden die Einheimischen verteidigt – auch bei den Einwohnern der betroffenen Region läuft das so. Dass die Festnahme eines jungen Mannes aus der Nachbarschaft nur ein Irrtum gewesen sein kann, steht nach dessen Freilassung außer Frage (dass man ihm vorher übelste Strafen verordnen wollte, wird gnädig verschwiegen).

Der Erzählstil gerät sehr distanziert, da der Erzähler einen von Dritten verlangten Bericht abliefert. Das Bürokratendeutsch, in der er sich versteigt, ist mühsam zu lesen. Zwischendurch „verfügt sich jemand zur Toilette“ und über eine Hausdurchsuchung klingt der Bericht zum Beispiel so: „Mir als letztem oblag die Aufgabe, die Luke zum Dachboden zu schließen und mittels eines metallenen Riegels zu versperren. Ich entledigte mich ihrer ungesäumt.“ Später gibt es Essen: „In der Küche entnahm meine Lebensgefährtin einem Kästchen ein ca. 100 cm langes und 50 cm breites Tablett.“ Das ist mehr als holprig, geht aber das ganze Buch über so.

Ein Krimi ist das Buch nicht. Was einen Krimi ausmacht, fehlt hier völlig. Es gibt keine Ermittlungen, keine Fährten, kein Rätsel, keine Täterprofile und keinerlei Überlegungen zum Motiv. Es könnte ein lang geratenes Essay über Moral und Sensationsgier geworden sein, das vielleicht einem realen Anlass entsprungen ist. Als solches gibt es viel eher einen Sinn, aber lesen muss man es dennoch nicht. Denn es gibt ein grundlegenderes Problem.

Eigentlich könnte der Roman eine interessante Frage zur Abwägung von Sensationslust, Begreifen und Schockverarbeitung stellen. Aber damit stellt sich das Buch selbst ein Bein – oder dem Leser eine Falle. Je nachdem, wie man zu der Frage steht, muss man das Buch nach einem Drittel schon wieder zur Bibliothek zurück tragen. Denn ab Seite 59 bekommt man die ganzen Szenen geschildert, die das Fernsehen aus dem Mitschnitt des Mordes gesendet hat. Dessen Zusammenfassung, die als Beschreibung einer vorhergehenden Nachrichtensendung auf Seite 42 gegeben wird, genügt eigentlich schon völlig, um sich als Fernsehzuschauer bzw. Leser gleichermaßen darüber im Klaren zu sein, dass man sich die Sondersendung, respektive die Lektüre darüber, sparen sollte. Für mich hatte sich das Buch an dieser Stelle bereits erledigt. Was ich im Fernsehen ablehne, brauche ich im Buch genauso wenig. Zwar ist das Werk Fiktion, aber es macht sich durch die Spiegelung der Sensationsgierr zu genau dem, was es anprangert. Zu einem Experiment, wie weit der Leser beim Lesen geht mit dem, worüber er beim Fernsehkonsum nachdenken soll.

Ab Seite 59 hieß es dann Querlesen, blättern, blättern, mal für ein paar Wörter lang gucken, ob das Grauen zu Ende ist, blättern, blättern, und prüfen, ob die Geschichte irgendwo als Geschichte weiter geht. Blättern, blättern. Wird ein Mörder gesucht oder nicht? Oder bleibt es bei dieser grausamen Vorführung? Kriegt man ein Buch oder bleibt es bei Voyeurismus, der in Papierform verkauft wird? Blättern, blättern, blättern. Es geht irgendwann weiter. Irgendwie jedenfalls.

Ich habe ab dieser Seite 59 auf keiner Seite mehr mehr als ein paar Wörter aufgeschnappt, um gerade noch so herauszufinden, ob aus dem angekündigten Krimi noch ein Krimi wird. Oder ob mir weiter zugemutet werden soll, dass ich zwei fiesen Morden minutiös beiwohnen soll. Ganz hinten im Buch sucht die Polizei tatsächlich und wird am Ende auch jemanden festnehmen. Die Antworten auf die wichtigen Fragen zur Tat, zum Täter und Motiv aber wird das Buch schuldig bleiben. Wie gesagt, mit einem Krimi haben wir es hier nicht zu tun. Das Buch endet, streng genommen, mit einer neuen Frage. Abgesehen von der, die der Autor stellt, stelle ich mir die Frage, warum das Buch einen Krimipreis bekommen hat. Scheint, als hätten sich die Juroren zu Voyeuren machen lassen und es gar nicht gemerkt.

Wer über die irren Auswüchse einer von Fernsehgier bestimmten Welt lesen will, den verweise ich zum Beispiel besser an Bernhard Jaumann und seinen Roman „Die Augen der Medusa“.

Bibliografische Angaben

Verlag: dtv
ISBN: 3-42313-546-8
Erstveröffentlichung: 2001

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