Eine Reise in die Zukunft

von Bettina Schnerr
7 Minuten Lesezeit

Mit Martin Walker in seine Deutschland-Vision des Jahres 2064

Das Finale des Festivals Zürich 2015 liest fand Sonntag Abend im Winterthurer Casinotheater statt mit der Lesung von Martin Walker. Was für ein Entrée, wenn man den Autor bereits beim Kartenkauf durch die große Fensterwand nebenan im Restaurant entdeckt, tiefenentspannt mit der Festivalleitung plaudernd. Zwei große Büchertische flankieren die Garderobenhaken, all die Walker-Titel brauchen Platz und die Partnerbuchhandlung hat ganze Arbeit geleistet: Alle sieben Bruno-Titel, als Taschenbuch, Hardcover und Hörbuch, das Bruno-Kochbuch und natürlich stapelweise das Buch, um das es heute Abend vorrangig geht, „Germany 2064“.

Martin Walker kommt mit einer Stofftasche seines deutschen Verlags Diogenes auf die Bühne (darauf das schöne Gespenst Knigi), begleitet vom Schauspieler Klaus Henner Russius, der die deutschen Texte lesen wird, sowie der TV- und Radio-Moderatorin Monika Schärer. Diese erzählt gleich zu Beginn begeistert vom Périgord, wo sie Walker bereits besuchen durfte. Allerdings räumt sie ziemlich schnell mit der Vorstellung auf, Walker würde dort hauptsächlich mit seiner alten Ente herumfahren, auf den Märkten bummeln, viel kochen und sich am laufenden Band mit Freunden zum Essen treffen. „Das Leben wie Gott in Frankreich“ passiert nur dann, wenn Martin Walker nicht beruflich eingespannt ist. Der Historiker und Journalist arbeitet als Berater und Zukunftsforscher bei A.T. Kearney und aus dieser Tätigkeit heraus entwickelte sich die Idee zu „Germany 2064“.

Martin Walker - Germany 2064

Ein staubtrockener Report wird zum Roman

„Vor den Bruno-Romanen schrieb ich typisch journalistische Sachbücher, über Bill Clinton, den kalten Krieg oder Russland,“ berichtet Martin Walker. „Im Périgord wollte ich etwas ganz anderes machen und so kam ich auf die Idee mit Bruno und begann, Krimis zu schreiben“

„Die Idee zu meinem neuen Buch steckte in einem Forschungsprojekt für die deutsche Regierung,“ berichtete Walker. Er gehört seit rund 15 Jahren zum Think-Tank „Global Business Policy Council“ bei A.T. Kearney, das bei der Konzeption der gesellschaftspolitischen Initiative dabei war. „Die Regierung wollte tatsächlich weiter denken als nur für vier Jahre bis zur nächsten Wahl, wie es in England so ist. Merkel und Gabriel wollten wissen, wie die Zukunft viele Jahre später aussehen und wie sie gestaltet werden könnte.“ Den Report dazu, „sehr interessant, sehr seriös“, ging 2014 an die Bunderegierung. „Ein bisschen langweilig, viele Grafiken und Tabellen,“ kommentiert Walker launig. Solange jedenfalls, bis ein Kollege nachfragte: „Martin, du bist doch Autor. Kannst du das nicht ein bisschen besser schreiben?“Natürlich musste es ein Krimi werden, weil er das nun mal kann, meint Walker schlicht. „Die Welt bleibt kriminell. Liebe, Hass, Verbrechen wird es immer geben.“ Dazu kommen einige Schlüsselelemente, die als Ankerpunkte in der kommenden Entwicklung gelten. Roboter zum Beispiel, die unter anderem im Militär (wo das bereits passiert) und später bei der Polizei regelmäßig eingesetzt werden. Die Person, die den Roboter im Buch programmiert, ist eine Frau, denn rund 60 Prozent aller Universitätsdiplome gehen derzeit an Frauen. Eine Expertin für Robotik einzusetzen, ist für Walker also eine logisch folgende Zukunftsvision. Außerdem wird eine Wirtschaftskrise Einfluss auf die Laufbahn der Charaktere haben.

Schärer und Walker stellen kurz in die Hauptcharaktere und eine technische, gut organisierte Welt vor, bevor die ersten Szenen des Buches gelesen werden. Jedem Kapitel vorangestellt, so erklärt Walker, ist ein kurzer Originaltext über Themen wie Zukunft, Roboter, aktuelle Herausforderungen oder technische Welten. Den ersten, einen Text der WHO zu antibiotischen Resistenzen, übernimmt Walker selbst, bevor Russius das erste Kapitel liest. Neobiotika werden, so Walker, ein Kernprodukt der Zukunft sein. „Polyresistente Bakterien sind bereits jetzt ein ernstes Thema und dass sie eine wesentliche Bedrohung werden, ist eine absolut realistische Erwartung.“ Im Deutschland des Jahres 2064 sind wirkungsvolle Neobiotika so wichtig, dass sie in einem ausgeklügelten Coup gestohlen werden: Russius lässt eine Szene in den Köpfen entstehen, die an Filme wie Mission Impossible erinnert. Technisch ausgefeilte Transporte, perfekt aufeinander abgestimmte Kommunikationsmethoden, Drohnen, bestens observierte Autobahnetappen und optimierte Fluchtrouten.

Martin Walker und Monika Schärer im Gespräch; Foto: Michael Solscher für Zürich liest

Eine Person in Walkers Roman hat ein Alter von 120 Jahren, Walker selbst wäre anno 2064 117 Jahre alt. „Eine mögliche Entwicklung,“ sagt Walker. „Es gibt Experten, die so ein Alter für möglich halten. Bereits jetzt steigt das Durchschnittsalter alle 10 Jahre um einige Monate an und wenn man die Rechnung weiter führt, könnte es 2064 Menschen geben, die so alt sind.“ Die logische Nachfrage von Monika Schärer folgt auf dem Fuß: „Wärst du auch gerne so alt?“ – „Ja, wenn ich dann noch schreiben kann und meine Familie um mich habe. Alleine möchte ich nicht sein und ohne Schreiben zu können möchte ich das auch nicht.“ Der Frage, ob ihm so eine Welt gefallen würde, weicht er ein bisschen aus. Es sei nicht seine, aber es sei interessant. Er erzählt wieder von aktuellen Forschungen, die 2064 Realität sein können. Dazu gehört zum Beispiel die Computerentwicklung eines menschlichen Gehirns. „Das ist natürlich sehr rational, aber so sind wir nicht. Wir hassen, lügen, lieben und sind irrational. Das kann ein Roboter nicht,“ sagt er. „Wir verstehen Roboter, aber Roboter verstehen uns nicht. Wir sind sozial, das sind Roboter nicht.“ Und Menschen gingen eben auch Beziehungen zu Dingen ein; so pflege er zum Beispiel eine Art „Beziehung“ zu seiner alten Ente.

Der Roboter, dein Freund und Helfer

Die Roboter liefern die Überleitung zum nächsten Textpaket. Dazu gehören die drei Gesetze der Robotik, die Isaac Asimov 1942 formuliert hatte. Gefolgt von dem Kapitel, in dem der Polizist Bernd Aguilar seinen frisch reparierten Roboterpartner Roberto zurück bekommt, nachdem dieser ein Update spendiert bekam und technisch auf dem allerneuesten Stand ist. Die Szenen bergen eine Menge Humor, zumal Russius sehr pointiert vorliest. In seinem Videotagebuch wird Walker am Tag danach übrigens berichten, dass er die Präsentation von Russius besonders geschätzt hat (Nachtrag 5/2018: dieses Tagebuch ist inzwischen offline). Wann hörte man schon einmal von einem Roboter, der sich weigert, mit einem anderen Menschen zusammenzuarbeiten? Ich habe immer wieder Lieutenant Commander Data vor Augen, wenn Russius liest, welche Mengen an Filme aufgespielt werden, damit die Roboter Menschen besser verstehen können oder wenn Roberto daran geht, Bernds Reaktionen zu analysieren und zu kommentieren. Mich würde interessieren, was oder wen Walker vor Augen hatte, als er die Szenen mit Roberto schrieb.

Die Realität heute kennt bereits Vorstufen zu Roberto, wie Walker ausführt, zum Beispiel empathische Roboter, die sich in Japan um ältere Menschen kümmern. Dazu ergänzt er selbst eine Passage über das Robobrain-Projekt der Cornell University, das er auf Englisch vorliest und diskutiert, wie man Abläufe so programmiert, dass ein beliebiges System in einer Gefahrensituation spontan richtig reagiert. Eine Anwendung, die in „Germany 2064“ auftaucht, sind selbstlenkende Autos und Walker erzählt, dass ein deutscher Autobauer („Ich darf nicht sagen, welcher.“) selbstlenkende Systeme im Jahr 2030 für realistisch hält. Weniger Arbeit mit Verkehrskontrollen, weniger Unfälle, günstigere Versicherungen wären die Folge. Auch Jobverluste? Walker bestätigt das, ergänzt aber sogleich, dass sich andere Berufe im Gegenzug neu entwickeln würden.

Nominierung als Wirtschaftsbuch des Jahres

Wie auch immer Deutschland im Jahr 2064 aussehen wird, die Weichen dazu werden heute gestellt, sagt Martin Walker, und heutige Merkmale bilden die Grundlage für das, was in 50 Jahren sein wird. „Russland mit Putin ist ein Desaster,“ bilanziert er ganz direkt, als Monika Schärer ihn auf diese aktuellen Merkmale anspricht. „Die Beziehung von Großbritannien und Europa bleibt noch eine Weile unklar. Afrika ist diffizil und wird den größten Impact von Veränderungen auffangen.“ Im Gegensatz zu Europa oder islamischen Staaten wie dem Iran ginge die Bevölkerungszahl nicht zurück und zudem liege auf dem Kontinent die Konfessionsgrenze. Was heute schon in Kleinen passiert, sieht er künftig im Großen als Aufgabe anderer Nationen in Afrika: Der Schutz von NGO-Arbeiten, Hilfscamps oder Flüchtlingscamps durch Soldaten. Eine Szenerie, die auch im Buch vorkommt.

Monika Schärer weist darauf hin, dass Walkers Buch 2015 auf der Handelsblatt-Shortlist für das Wirtschaftsbuch des Jahres stand. Die anschaulich aufbereiteten Fakten hatten es der Jury angetan, die Wert auf eine verständliche Vermittlung ökonomischer Zusammenhänge legt. Offenbar ist das Martin Walker mit einem Belletristik-Werk gelungen und es stand gleichberechtigt neben neun Sachtiteln.

Bildercollage aus der Lesung von Martin Walker zu "Germany 2064" beim Literaturfestival Zürich liest; Fotos: Michael Solscher

Ausflug ins Périgord

Die Zeit reicht gegen Ende der sehr aufschlussreichen und interessanten Aspekte noch, um auf Walkers berühmten Bruno einzugehen (gleich vorweg: In Bergerac wird es 2016 wohl einen Cuvée Bruno geben). Martin Walker erzählt selbst, wie der Roman beginnt. Wie Bruno sich von einer Taser-Attacke erholt und Pamela ihn an ein Chanson von Jacques Brel erinnert: La Chanson des vieux amants. Walker steht auf und singt den Chanson kurzerhand selbst. Brel möge er sehr, verrät er und erzählt, dass er unter anderem mit Hilfe von Chansons sein Französisch verbessert habe (wer es ihm nachtun will, findet hier den Text). Der achte Fall für Bruno erscheint im Frühjahr 2016, kündigt Walker an. Er schiebt gleich die Information hinterher, dass Fall 9 so gut wie fertig ist (was für eine Veröffentlichung 2017 spricht) und an dem Fall für 2018, also Band 10, habe er vor der Lesung tatsächlich geschrieben.

Auch das Kochbuch fehlt freilich nicht und Walker ist begeistert, dass es erst jüngst auf der Frankfurter Buchmesse die Silbermedaille der Gastronomie Akademie Deutschlands erhielt. Es hatte den Preis „Best French Cuisine in the World 2014“ abgeräumt und (nochmal Buchmesse) im Rahmen der Gourmand World Cookbook Awards zum besten Kochbuch der letzten 20 Jahre in der Kategorie French Cuisine gekürt. Die Fotos im Buch stammen aus Walkers eigener Küche, denn er habe keine typischen Fotos aus dem Studio haben wollen, wo viele Komponenten gar kein Essen seien, sondern aus Ersatzprodukten bestünden.

Nicht fehlen durften ein paar Anekdoten aus dem Périgord und Martin Walker stellte seine vermutlich inzwischen ziemlich bekannte Geflügelfamilie vor. Sarko, der Hahn, der mit den Hühnern Carla Bruni, Margaret Thatcher, Hillary Clinton und Angela Merkel lebe. Und von seinem Fasan Hollande, dessen Fasanenfrau nach Segolène Royal und Valerie Trierweiller nun schon den dritten Namen habe und wie man sie im kommenden Jahr nennen müsse, sei offen. Die Lacher hat der charmante Schotte an diesem Abend immer auf seiner Seite und bei der Signierstunde im Anschluss schwatzt er mit jedem Besucher, der sich mit einem Buch bei ihm anstellt, während die Büchertische besonders beim Kochbuch mittlerweile gröbere Lücken aufweisen.Wer den (für’s Internet angeblich) ungewöhnlich langen Text bis hierher durchgehalten hat, merkt gewiss, dass ich nicht nur die Lesung als solche gelungen fand. Sondern dass speziell bei dem aktuellen Titel von Martin Walker eine ganze Menge interessanter Fragen über die Technologien und die Gestaltung der Zukunft auftauchen. Man merkt Walker an, dass er sich mit Zukunftsszenarien intensiv auseinander gesetzt hat und eine Lesung wie diese nur einen Bruchteil der Themen abdecken kann, die beim Zuhören auftauchen, nur einen Bruchteil der Themen, die Walker beruflich beschäftigen. Das hat die Diskussion besonders interessant gemacht und ich würde Walker gerne einmal als Experten auf einem Zukunftssymposium erleben.Bettina Schnerr, Oktober 2015


Fotos: Michael Solscher für „Zürich liest’15“; Bettina Schnerr

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