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Ethel Lina White – Ein Dame verschwindet

Ethel Lina White – Ein Dame verschwindet

Ethel Lina White - Eine Dame verschwindetIris Carr hat die lange Rückreise nach England angetreten. Im Zug lernt sie die hilfsbereite Miss Froy kennen, eine Gouvernante. Die beiden Frauen freunden sich an. Als Iris nach einem kleinen Nickerchen wieder aufwacht, ist Miss Froy nicht mehr im Abteil. Auch nach längerer Zeit kommt sie nicht zurück. Kurzentschlossen macht Iris sich auf die Suche: Aber niemand außer ihr selbst scheint Miss Froy je gesehen zu haben. Hat sie alles nur geträumt? Seltsame Dinge ereignen sich …

Rezension

Die junge Iris Carr macht mit einer amüsierwütigen Clique Ferien in den Bergen. Irgendwo auf dem Balkan klettern sie auf Berge und schockieren die restlichen britischen Urlauber mit neumodischen Badeanzügen, übermütigem Lärm und Vorzugsbehandlung. Die Rückfahrt im Express nach Triest tritt sie allerdings einige Tage später als die anderen alleine an. Im überfüllten Zug trifft sie im Abteil fast nur auf Einheimische, die einer anwesenden Baroness demütig Respekt zollen. Der lokalen Sprache nicht mächtig, kann sie sich mit niemandem verständigen und so freundet sie sich lose mit der einzigen Passagierin an, die ebenfalls aus England kommt und gleich gegenüber sitzt: Miss Froy. Nach einem kleinen Nickerchen von Carr ist Miss Froys Platz leer. Sie taucht auch nach längerer Zeit nicht wieder auf, der Koffer ist verschwunden und die einsame Carr macht sich verwirrt auf die Suche nach der neuen Reisegefährtin.

„Mrs. Froy wäre wütend gewesen hätte sie geahnt, dass jemand ihre Realität anzweifelte.“

Ihre Ausgangslage ist denkbar schlecht: Im Abteil leugnet jeder, jemals eine Miss Froy gesehen zu haben und Carr gilt bei so vielen Gegenstimmen schnell als wirr, zumal sie vor der Abfahrt einen Hitzschlag erlitten hat und natürlich unter den Folgen leidet. Sie trinkt und isst zu wenig, hat Kopfschmerzen und ist ganz schön blass. Von den englischen Urlaubsgästen aus dem Hotel kann sie wenig Hilfe erwarten, denn die haben sie als Störenfried in Erinnerung. Einzig die Frau des Vikars bestätigt, dass auch sie Miss Froy gesehen hat. Ein englischer Professor und dessen Student Hare helfen Carr mit Dolmetscherdiensten, geraten aber schnell an die Grenzen ihrer Gutmütigkeit. Bis zum ersten Halt des Zuges in Triest will Carr das Rätsel um Miss Froy lösen; eine Ahnung sagt ihr, dass die Erklärung keineswegs harmlos ist. Sie kämpft um ihre Glaubwürdigkeit, stets leicht gehindert durch die Folgen ihres Hitzschlags.

White spielt hervorragend mit den Themen Perspektive und Glaubwürdigkeit. Eine große Rolle im Roman spielen die Klassensysteme. „Diese abgelegenen Distrikte haben immer noch eine gewisse Feudalherrschaft und sind Jahrhunderte hinter der Zeit zurück.“ Das sorgt dafür, dass die Worte der Baroness Gesetz sind und unwidersprochen bleiben. Sagt sie, es gebe keine Miss Froy, folgt das Abteil dem Urteil. Die Briten machen ihre Sache in dieser Hinsicht allerdings nicht besser. Der Frau des Vikars wird vom Professor selbstredend eine hohe Glaubwürdigkeit bescheinigt und die behäbigen Damen Flood-Porter findet er über jeden Zweifels erhaben. Da kann die junge Iris Carr in den Augen ihrer Gesprächspartner nicht mithalten, lebhaft, eitel und selbstsüchtig. Auch heute würde dieses Problem der Perspektive bestehen, wie eine Diskussion über das System der Jury in der Rechtssprechung zeigt. Die Engländer, die Carr um Hilfe bittet, haben alle ihre eigene Beweggründe, warum sie Carr nicht bestätigen und spielen den Gegenspielern unwissentlich in die Hände.

„Alle verdammen den Gefangenen, jeder aus einem anderen Grund. Und jeder der Geschworenen hat ein Geschäft oder eine Familie, und alle wollen dorthin zurückkehren. Sie schielen immer zur Uhr und klammern sich an das Nächstliegende.“

Das ganze Buch über ist die Verzweiflung von Carr deutlich spürbar. Das erledigt White nicht nur über die Erzählung selbst, sondern es gelingt ihr ebenso gut, unsere eigenen Ängste mit der elenden Hilflosigkeit Carrs zu rühren. Unüberwindliche Sprachbarrieren, keine Glaubwürdigkeit, der unselige Hitzschlag. Das zehrt an den Nerven und man würde Iris Carr am liebsten zur Seite springen. Wer will schon erleben, dass das eigene feste Wissen um die eigene, untadelige Wahrnehmung für ein Hirngespinst gehalten wird? Oder haben die anderen doch Recht? So viele Gegenspieler zu haben, aus welchen Beweggründen auch immer, kann auch nervenstarke Menschen tief verunsichern.

Das Spiel mit den Perspektiven, der Kampf gegen eine große Gegnerschar, die Ungewissheit, eine fehlende Erklärung für all das – die Elemente des Romans sind so frisch und so gut erzählt, dass dieser Klassiker, wie ich finde, keinen Staub angesetzt hat.

Bibliografische Angaben

Verlag: Beate Kuckertz
ISBN: 3453082206
Originaltitel: The lady vanishes
Erstveröffentlichung: 1936
Deutsche Erstveröffentlichung: 1975
Übersetzung: Beate Kuckertz

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