Marion Sharpe und ihrer Mutter bewohnen seit wenigen Jahren ein abgelegenes Herrenhaus in der britischen Provinz. Mit den Leuten aus dem Dorf Milford haben sie nicht viel zu tun, abgesehen von den regelmäßigen Einkäufen und der Einkehr in einem der Cafés. Kennt man einen Tag, kennt man alle. Eines Tages behauptet Betty Kane, ein Mädchen aus der Umgebung, von den Sharpes entführt und vier Wochen lang als Haushaltshilfe missbraucht worden zu sein. Eine ungeheure Anschuldigung, die selbstredend für großen Aufruhr sorgt.
Den Frauen zur Seite steht ganz unverhofft der Anwalt Robert Blair, den Marion Sharpe in ihrer Not angerufen hat. Blair zweifelt stark, ob er den Frauen in dieser Angelegenheit helfen kann, verlaufen die Tage in seiner Milforder Kanzlei doch gleichmäßig und harmlos. Mit Strafsachen kennt er sich nicht aus. Aufsehenerregend ist in Milford höchstens der zackige Rythmus, in dem eine Klientin ihr Testament geändert haben möchte. Allerdings wird Blair bei der Begehung vor Ort klar, dass den Sharpes von Betty Kane wohl wirklich übel mitgespielt wird. Nur wie kann man die Unschuld der Frauen beweisen, wenn das Mädchen Details aus dem Hausinneren beschreiben kann?
Für Robert Blair beginnt die mühsame Arbeit in einem völlig neuen Bereich. Aber es bereitet ihm beruflich überraschend viel Freude, wie ein Verteidiger zu arbeiten. Geht man davon aus, dass die Sharpes unschuldig sind, was hat Betty Kane während der vier Wochen tatsächlich getrieben und wie könnte man das beweisen?
„Es kommt nicht oft vor, dass ich eine so schwere Verantwortung wie im Augenblick trage, und du musst mir verzeihen, wenn ich ein wenig erschöpft bin.“
„Ich habe nicht das Gefühl, dass du erschöpft bist. Im Gegenteil, ich habe dich noch nie so zufrieden mit dir selbst gesehen. Ich glaube, du genießt diese abscheuliche Geschichte geradezu.“
Die „heile“ Welt
Josephine Tey hat einen wirklich spannenden Krimi geschrieben, der der Gesellschaft genau auf die Finger schaut. Unauffällig, aber punktgenau. Ohne zu ahnen, dass sich in den folgenden siebzig Jahren wenig ändern würde. Dieses Milford könnte überall sein: Ein hinreichend kleiner Ort, in dem man die Leute gerade noch so kennt und daher alles zu wissen glaubt. Der Tratsch blüht, ohne dass es jemanden gibt, der tatsächlich ernsthaft Bescheid wüsste.
Die zurückgezogen lebenden Sharpes fallen in diesem Umfeld also aus dem Rahmen und im Vergleich zu einem unschuldigen Schulmädchen kann das Mutter-Tochter-Gespann nur verlieren. Dabei schätzen inklusive Mutter Sharpe selbst von Anfang an schon so einige Leute Betty Kane als gewiefte Lügnerin ein, die sich in Wirklichkeit mit einem Liebhaber amüsiert hat und bloß nicht will, dass es herauskommt. Doch in der Summe sind es zu wenige und die Mehrheit der Leute traut dem Mädel nicht einmal eine kleine Boshaftigkeit zu. Nicht lange, und die ersten Scheiben werden eingeworfen.
Das Buch erschien, quasi seinem Alter angemessen, nicht nur mehrfach, sondern auch unter unterschiedlichen Titeln. „Der große Verdacht“ und „Die verfolgte Unschuld“ – falls jemand im Antiquariat stöbern möchte. Dort zu finden ist auch die Kampa-Ausgabe von 2021 vom Kampa-Imprint Oktopus, während 2024 nochmals eine Neuauflage erscheint. Und das sei gesagt: Sie lohnt sich unbedingt.
Bibliografische Angaben
Verlag: Kampa
ISBN: 978-3-311-15549-2
Originaltitel: The Franchise Affair
Erstveröffentlichung: 1948
Deutsche Erstveröffentlichung: 1959
Übersetzung: Manfred Allié
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