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Michael Düblin – Der kalte Saphir

Michael Düblin – Der kalte Saphir

Michael Düblin - Der kalte Saphir

Nach Jahrzehnten des Schweigens gibt Sebastian Winter, einst Tontechniker der legendären Band Klarstein, 2015 erstmals ein Interview. Jule Sommer, gefeierte Journalistin des Musikmagazins Schall, hat die einmalige Chance, aus erster Hand zu erfahren, was sich damals in der «Kommune des Schreckens» tatsächlich abgespielt hat. Im Berlin der späten 1970er Jahre war die Band um den charismatischen Sänger Jerome aus dem Nichts kommend kometenhaft aufgestiegen. Nachdem die erste Platte und vor allem die Single Sommer die Charts gestürmt hatten, schien den Erfolg nichts mehr aufhalten zu können. Bis zu jener katastrophalen Neujahrsnacht, an deren Ende Jerome erschossen im Tonstudio lag und Klarstein aufgehört hat zu existieren. Sebastian Winter will reden, doch was hat er zu erzählen – und was bezweckt er damit? Je weiter er die Reporterin in die Vergangenheit mitnimmt, desto beklemmender empfindet diese das Gespräch: Führt sie ein Interview oder nimmt sie eine Beichte ab; hat sie es mit einem Zeugen oder einem Mörder zu tun? Und was bedeutet das für sie selbst? Weiss Winter gar von ihrem geheimen Auftrag?

Rezension

Jule Sommer, eine junge, aber bereits namhafte Musikjournalistin, gelingt ein Coup: Sie bekommt nach hartnäckiger Anfrage einen Interviewtermin mit Sebastian Winter. Winter war Ende der 1970er Tontechniker der Berliner Kultband Klarstein und lebt seit dem Ende der Band zurückgezogen. Bis heute ist der Tod des Sängers Jerome 1982 ein Rätsel und Sommer hat sich vorgenommen, genau herauszufinden, was damals passiert war. Jerome lag eines Nachts erschossen im Tonstudio und seither ist die Drummerin der Band spurlos verschwunden; aber der Täter blieb seit jeher unbekannt. Winter lädt die Journalistin in seinen griechischen Wohnsitz ein und erzählt.

Winter beginnt ganz von vorne und berichtet, wie er eher zufällig Mitglied der Band wurde. In sein Haus an der Kopischstrasse ließ er Mieter einziehen, um seinen spontanen Immobilienkauf in Berlin zu finanzieren. Der erste Interessent war eben jener Jerome, der ab diesem Zeitpunkt das Zepter im Haus übernahm. Jerome organisierte die anderen Mieter, jeder musste Musiker sein und zu seiner Vision einer Band passen. Aus den Musikern im Haus entwickelt sich die Band Klarstein, geführt und promoted von Jerome, dem Sänger, der Kontakte zu Radiostationen und Veranstaltern knüpfte. Sebastian Winter wurde zum Tontechniker, der mit Geschick und Organisationstalent das Equipment der Band zusammen stellte und funktionstüchtig hielt.

→ zum Interview mit Michael Düblin

Ein besonderer Clou sind die großen Hits dieser Band, die im Lauf des Buchs erwähnt werden. Die Texte zu „Sommer“, „Herbstwind“ und „Bind uns los“ werden lose zu einem Teil der Geschichte, dazu gibt es jeweils einen eigenen Downloadcode. Mit der Idee zu passenden Songs bietet das Buch eine gut überlegte Besonderheit, auch stilistisch meiner Meinung nach völlig passend (wer das Buch nicht lesen mag, kann die Titel übrigens auch einzeln erwerben).

Das Buch erzählt in Passagen abwechselnd vom Interview in Griechenland und von den Rückblenden Winters, mit denen er die Geschichte der Band erzählt. Michael Düblin gibt immer an, wo die Kapitel spielen und die Reihenfolge ergibt sich aus Sommers Gespräch mit Winter. Daher ist es kein Problem, der Geschichte auf zwei Zeitebenen zu folgen. Jule Sommer stellt dabei fest, dass Sebastian Winter sich nicht wie andere Interviewpartner locken und führen lässt. Er hat, ebenso wie sie, ein eigenes Drehbuch für das Gespräch entwickelt und will kein Stück von seinem vorgeplanten Bericht abrücken. Das zehrt an Sommers Nerven, hatte sie doch geglaubt, Winter mit ihrer Anfragetaktik geknackt zu haben. Aber sie registiert Winters eigenes Spiel schnell und versteht, dass er sie nur eingeladen hat, weil sie zu seinem Plan passt. Will sie mehr zum Mord an Jerome erfahren, muss sie sich auf Winters Spiel einlassen. Die Neugier folgt also zwei wichtigen Fragen; es geht nicht nur um die Aufdeckung der damaligen Umstände, sondern auch um die Hintergründe zu Winters plötzlich so bereitwilliger Einladung nach all den stillen Jahren.

In den Rückblenden begegnet der Leser intensiv dem Innenleben der Band. Mit Charisma, aber auch viel Rücksichtslosikgeit, übernahm Jerome die Führungsrolle im Haus. Nach kurzer Zeit wagte niemand mehr, ihm zu widersprechen – weder Sebastian Winter, obwohl der unter Mietrückständen zu leiden hatte und eigene Ersparnisse angriff, um die Band zu unterstützen, noch Bandmitglieder, wenn es um zum Beispiel um Urheberrechte oder Verhandlungen mit Studios und Radiostationen ging. Einzig die Percussionistin Zed hatte nicht nur den Mut zum Widerspruch, ihre Einwände wurden von Jerome sogar geduldet. Zed war zudem die einzige professionelle Musikerin mit einer begehrten Stelle bei den Berliner Philharmonikern. Dem Gründungsmythos der Band zufolge war es dem charismatischen Jerome mit nur wenigen Worten und einem Saphirring gelungen, sie dem renommierten Orchester zu entziehen.

Jule Sommer erfährt von den kleinen Dramen hinter den Kulissen, die seinerzeit aber offenbar nie publik geworden waren. Winter füttert sie in einem kleinen Katz-und-Maus-Spiel mit immer neuen Hintergrundinformationen, um ihr Bild von der Band zu prägen. Besonders das von Jerome, der die Bandmitglieder für seine Visionen wie Spielfiguren setzt. Die heute noch lebenden Bandmitglieder haben keinen Kontakt mehr zueinander, aber für Winter vergeht offenbar kein Tag, an dem er sich nicht die Rückkehr der tief verehrten Zed wünscht. Die Geschichte der Band ist zugleich eine Geschichte verschiedener Abhängigkeiten, die nie recht gelöst werden konnten. Durch die ungleichen Beteiligungen leidet das menschliche Gleichgewicht in der Band und Jule Sommer wird zum Ventil für die Aufarbeitung. Die Aufklärung des Mordes, der sie zu Winter geführt hat, ist nur ein Teil der Geschichte, die das Buch lesenswert erzählt.

Bibliografische Angaben

Verlag: Johannes Petri
ISBN: 978-3-03784-098-6
Erstveröffentlichung: 2016

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