Noemi Vola hat so ziemlich alle Vorstellungen davon über den Haufen geworfen, was mich bei diesem Buch erwarten würde! Das „relativ kurze naturkundliche Traktat“ entpuppte sich so gar nicht als das kindgerecht aufbereitete Sachbuch, das ich erwartet hatte. Statt so etwas wie das Steinebuch von Felix Bork öffnete ich zwar ebenfalls ein komplett selbst illustriertes und getextetes Buch. Aber am Ende weiß ich über Regenwürmer nicht unbedingt mehr als zuvor. Ich überlege eher, wie viel hier überhaupt bewusst Sachbuch sein soll. Ist das Bilderbuch nicht viel eher eine kleine Philosophie für Kinder über Tiere, die niemand so recht ernst nimmt? Außer Kindern natürlich, die in einem gewissen Alter jedem Regenwurm beim Spaziergang „Guten Tag“ sagen und ihn vom Weg ins Gras tragen, damit niemand drauf tritt.
Es gibt laut Vola offenbar nur zwei berühmte Menschen, die sich jemals mehr Gedanken gemacht haben: Charles Darwin (mit einem heute wenig bekannten Buch von 1881) und Tove Jansson (in „Das Sommerbuch“).
Liebevolle Phantasie und kreative Vielfalt
Vola macht sich über zahlreiche und vielfältige Illustrationen ihre Gedanken darüber, wie unterschiedlich Regenwürmer sein können oder welche anderen Würmer als Verwandte gezählt werden können. Sie schaut, wo vorne und hinten ist und überlegt, ob sich der Regenwurm über diese Fragen ebenfalls Gedanken macht.
Das Buch stellt die Feinde der Regenwürmer vor sowie ihre wilden, unterirdischen Gänge. Alleine dazu hat Noemi Vola unzählige Seiten mit verschiedenen Verläufen gezeichnet. Und sie beantwortet natürlich die Frage, warum Regenwürmer ausgerechnet bei Regen an die Erdoberfläche kommen.
Warum das Traktat „kurz“ genannt wird? Ich weiß es nicht. Würde man den Text des Buchs kondensieren, wäre es tatsächlich reichlich schmal. Aber darum geht es bei den Regenwürmern eigentlich gar nicht. Man kann sich in diesem Buch verlieren. Es hat nämlich keine Seitenzahlen! Man muss extra online bei einer Buchhandlung recherchieren, um herauszufinden, dass es 264 sein sollen. Somit ist es eigentlich ein schön dickes Kinderbuch.

Dafür aber hat das Buch unglaublich viele Ideen, wie sich der Alltag all der verschiedenen Regenwürmer gestaltet. Wollen sie gelegentlich jemand anders sein? Und falls ja, wer? Und was passiert mit ihnen bei einem Blitzschlag? Das ist alles in allem eine sehr charmante Lektüre, die bei genauem Hinsehen dem Regenwurm gelegentlich überraschend menschliche Züge gibt. Ihm geht’s wie uns, wenn er etwas Neues anzettelt:
Jedes Mal, wenn ein Wurm anfängt, einen Gang zu graben, hat er keine Ahnung, wohin ihn dieser führen wird, wie lang er sein wird und wo er enden wird.
Bonuslink: eine Leseprobe.
Bibliografische Daten
Verlag: Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-629-9
Originaltitel: Sulla vita sfortunata del vermi. Trattato abbastanza breve di storia naturale
Erstveröffentlichung: 2021
Deutsche Erstausgabe: 2025
Übersetzung: Alexandra Titze-Grabec
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