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Raphael Zehnder – Müller und die Ambulanzexplosion

Raphael Zehnder – Müller und die Ambulanzexplosion

Raphael Zehnder - Müller und die Ambulanzexplosion

Wer ein paar Zeilen Latein vor dem Personenverzeichnis durchsteht (Zehnder ist studierter Lateiner, ich hatte das nur zwei Jahre), trifft auf den Zürcher Ortsteil Altstetten. Für Fußball- und Leichtathletikfans eine wichtige Adresse, denn Altstetten beherbergt das Stadion Letzigrund. Daran vorbei führt die Badenerstrasse und die wiederum wird für die Polizei zu einer bedeutenden Anlaufstelle: In einem der Geschäftshäuser mit 670er Nummer wird vom Nachtwächter ein Toter entdeckt. Eigentlich geht dessen Tour nur bis zum dritten Stock. Doch irgendwann beginnt der Tote zu stinken und weil die Wohnungstüre offen ist, fällt er dann doch irgendwann auf.

Der Fund wird für die Polizei zu einem Rätsel. Der Tote ist — aus verschiedenen Gründen — nicht identifizierbar. Nur im Abfalleimer der Wohnung findet sich ein Drohbrief, eingeleitet mit Worten der Apokalypse.

„Das hier ist nicht Bullerbü“

Genau solch ein Brief taucht auch auf dem Polizeiposten auf, eine alleinerziehende Mutter erstattet Anzeige. Die Polizei fischt im Trüben. Zwar fallen beim Abgleich aller Daten irgendwann mehrere Adressaten auf, aber wo sollen sie anfangen? Zugleich müssen sie beim Todesfall an der Badenerstrasse mühsam über Meldedaten gehen, Namensabgleiche vornehmen, das Ausland einschalten und sich fragen, wie es der Wohnungsinhaber geschafft hat, der Aktualisierung seiner Datenbankeinträge zu entkommen.

Rapahel Zehnder übrigens findet es nicht nett, was der Täter da macht. Ihm fällt beim Täter eine gewisse „Gleichgültigkeit gegenüber dem Freizeitbudget unserer Polizei“ auf, denn die läuft sich praktisch die Hacken ab, um verwertbare Aussagen der Nachbarschaft zu erfragen, nur, um dann doch keine zu erhalten. Einzig der mühselige Abgleich mit Steuerdaten, alten Steuerdokumenten und ein paar Informationen aus dem Ausland geben schlussendlich die Identität des Opfers preis. Auf diese Weise trifft die Polizei endlich auf Menschen, die sie zum Toten befragen kann. Nur, was bringt’s?

Die Philosophen nach Nietzsche sind in Sachen „nichts“ vorsichtig, deshalb hier Dioderos, der mit 7154 Sils im Engadin nichts am Hut hatte: „Das Nichts exisitert nur, wenn ich darüber spreche.“

Raphael Zehnder müllert in Zürich

Kurz nochmal zurück zum Letzigrund, der bietet sich als Überleitung zu weiteren Details an. Denn nichts passt hier besser als eine Anleihe beim Fußball. Da bekam Spielerlegende Gerd Müller von den Journalisten einst ein eigenes Verb für seinen Stil verpasst: Er müllerte. Wenn Zehnder seinen Müller durch Altstetten müllern lässt, läuft das nicht anders.

Wenn Müller Altstettens Unterwelt anzapft, um über den Toten etwas herauszubekommen, tut er nicht viel mehr, als ein paar alte Rocker aufzumischen, die Altstetten Basterds, die nach dem Besuch überlegen, ob sie nicht besser „Basterds“ fetter schreiben sollten als „Altstetten“. Die Unterwelt scheint anderswo weiter unten zu sein als ausgerechnet in Altstetten.

Wenn Zehnder über Müllers Team schreibt, gibt er sich besonders bei Rocco viel Mühe, ebenso, wie sich Rocco viel Mühe bei der Auswahl seiner Kleidung gibt. Nur über die Aufschriften auf Roccos Lederjacke will sich Lateiner Zehnder besser keine Gedanken machen.

Wenn Zehnder in den Stil der Spoken Word-Künstler kippt, bekommt das Buch auch optisch ein paar Besonderheiten.

Du darfst die Waffe nur ziehen, wenn du sie einzusetzen genötigt sein könntest und willens bist. Gleichzeitig findet im Kopf immer dieser Gedanke statt: Memento die Folgen! Weil Todesfall = unwiderruflich. Der Müller hat damit ja Erfahrung und deshalb gelitten: Müllerstrasse, der Flüchtige → tot. Willst du nicht. Gerade an der Waffe gilt: „Disziplin!“ (Seneca).

Stimmige Proportionen im bevölkerungsrechsten Teil Zürichs

Hier fehlen der besonderen Zeichensetzung zulieben eben auch mal Verben. Entschädigt wird man mit Zitaten, Elvis, Napoleon Bonaparte, M. Phython oder eben Seneca sind nur eine kleine Auswahl davon. Wer jetzt an Wolf Haas denkt? Nein, Zehnder ist etwas ganz anderes, mit seinen kleinen Exkursen und kleinen Seitenhieben auf Bugs in der Polizeisoftware, schwachsinnig getextete Klamottenlabels und Schweizer Ordnungsfanatiker im Quartier.

Diesen Zehnder zu lesen hieß, viele eingetretene Pfade zu verlassen. Was habe ich mich an Anfang darüber aufgeregt, dass ich es im Buch mit einem bekloppten Drohbriefschreiber zu tun bekam. Nein, bitte keine nervigen psychopatischen Serienkiller, der Klappentext hatte mich nicht vorgewarnt! Zehnder allerdings steppt die Proportionen auf ein ordentliches Maß, am Ende passt alles zusammen und trotzdem war der Besuch in Altstetten alles andere als langweilig und vorhersehbar.

Bibliografische Angaben

Verlag: emons
ISBN: 978-3-7408-0011-6
Erstveröffentlichung: 2016

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