Patience Portefeux arbeitet als Übersetzerin im französischen Justizsystem. Die Französin beherrscht Arabisch aus dem Effeff und wird für die verschiedensten Aufgaben herangezogen. Verhöre, Video-Mitschnitte, abgehörte Telefonate oder Dokumente. Doch ihre exklusiven Kenntnisse werden weitaus weniger exklusiv honoriert. Der Staat zahlt schlecht und als die Mutter ins Heim kommt, fressen sich die Kosten langsam aber sicher durch’s Gebälk.
Im Übrigen werde ich vom Justizministerium schwarz bezahlt und meldete dem Finanzamt keinerlei Einkünfte. Ziemlich beängstigend eigentlich, wenn man’s bedenkt, dass die Übersetzer, von denen die nationale Sicherheit abhängt, … illegalisierte Arbeiter ohne Sozialversicherung und Altersrente sind.
Portefeux wechselt die Seiten, als sie Mitschnitte über einen marokkanischen „Familienbetrieb“ übersetzt. Durch Zufall kennt sie die Mutter und greift helfend ein, als es für die Familie eng wird.
Lohnende Lehrjahre
Patience Portefeux erzählt nicht nur von ihrem Job. In Rückblenden erzählt sie von ihrem Elternhaus, irgendwo direkt neben einer Autobahn. Die Häuser dort bevölkert von Menschen, die alle irgendwie mindestens merkwürdige Angewohnheiten oder Berufe haben. Das Kind Patience erlebt Jahre des Wohlstands, ohne genau zu begreifen, wie die Familie genau wirtschaftet. Erst nach und nach versteht sie Szenen und Bilder, weiß um das Schicksal des Haushelfers und vielleicht verschafft ihr das die nötige Schläue und Härte, als es ernst wird.
Die Bengel, deren Schacher ich den lieben langen Tag belausche, verbüßen schwere Gefängnisstrafen, weil sie ihr Hasch an die Kinder der Bullen verkaufen, die sie verfolgen, an die der Richter, die sie verurteilen, wie an all die Anwälte, die sie verteidigen.

Die Marokkaner können die Drogen, die sie dank Portefeux vor der Polizei noch in Sicherheit bringen konnten, nämlich nicht mehr retten. Einzig die Übersetzerin weiß, wo sie ungefähr suchen muss. Sie sucht erfolgreich und hat plötzlich hunderte Kilogramm ausgezeichnetes Haschisch im Keller. Im Gegensatz zu den Kleindealern, die sich durch Machoallüren und Dummheit selbst in Gefahr bringen, weiß Portefeux genau, wie sie ihr Geschäft aufziehen muss. Sie, die besser Arabisch spricht als die Möchtegern-Milieuhelden, deren Gespräche sie abhört, nutzt all das Wissen, das sie in den Jahren als Übersetzerin mitgenommen hat — ab sofort bekannt als „die Alte“.
Boshafte Abrechnung mit dem System
„Die Alte“ wird zur abgebrühten Drogendealerin, perfekt verkleidet als Marokkanerin und authentisch dank ihrer Sprachkenntnnisse. Sie organisiert den Handel, umgeht Beobachtungstrupps und lässt sich nicht übers Ohr hauen. Die Polizei kann gar nicht glauben, dass sie dieser neuen Person auf der Bildfläche kein bisschen näher kommen. Wie können sie auch ahnen, dass das System von jemandem ausgehebelt wird, der Teil des Systems ist?
Wie dem auch sei, ich habe praktisch fünfundzwanzig Jahre lang vom Drogenhandel gelebt, genau wie die tausende Beamte, die für seine Ausrottung zuständig sind, und die zahlreichen Familien, die sich ohne dieses Geld nur von Sozialleistungen ernähren könnten.
Hannelore Cayre zeigt in diesem Roman, wie gut sie dieses System während ihrer aktiven Zeit als Strafverteidigerin kennengelernt hat. Wie gut sie auch die Situation der Menschen kennt, die in Frankreich kaum eine Chance bekommen. Sie ist Dominique Manotti absolut ebenbürtig in der Präzision, mit der sie den Lack abkratzt und das brüchige Gerüst freilegt, auf dem die französische Justiz sich sicher wägt. Nur schreibt Cayre bei weitem bissiger und ihre Patience Portefeux genießt es geradezu, die Polizei aufs Kreuz zu legen. „Die Alte“ ist großes Kino, im wahrsten Sinn des Wortes: Cayre lieferte nach dem Buch auch das Drehbuch für die Verfilmung mit Isabelle Huppert.
Die Alte: Zwei Gesichter — ein Masterbrain


Bibliografische Angaben
Verlag: Ariadne im Argument Verlag
ISBN: 978-3-86754-240-1
Originaltitel: La daronne
Erstveröffentlichung: 2017
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Iris Konopik
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