Georges Simenon – Der Spürsinn des kleinen Doktors

von Bettina Schnerr
3 Minuten Lesezeit
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Jean Dollent lebt mit seiner Haushälterin Anna im kleinen Dorf Marsilly bei La Rochelle, kümmert sich um seine Praxis, macht die üblichen Hausbesuche und verschreibt im Wesentlichen Mittelchen für Wehwehchen. Eines Tages erhält er kurz vor dem Mittagessen einen Anruf. In einem einsam gelegenen Haus im Moor lebt seit kurzer Zeit ein junges Pärchen. Zu diesem soll er hinausfahren, um sich um einen Patienten zu kümmern. Als er dort ankommt, trifft er allerdings niemanden an. Neugierig schaut er sich um, denn schon der Anruf war seltsam. Vom Haus aus hätte man ihn um diese Uhrzeit gar nicht anrufen können, weil die Telefonvermittlung Mittagspause macht.

Hier passt etwas nicht zusammen und – tatsächlich – findet Dollent einen Toten. Er beginnt mit Nachforschungen, denn er merkt, dass er ein bisschen mehr weiß als die Polizei. Er findet Gefallen am Recherchieren und versucht, den Fall im Alleingang zu lösen.

Woher der „kleine Doktor“ seinen Spitznamen hat, ist nicht ganz klar. Vielleicht, weil er klein und freundlich ist – gerade einmal 30 Jahre alt -, vielleicht aber auch, weil er in einem kleinen Auto „durch die Straßen rattert“. Wie passend in diesem Zusammenhang, dass dieser Non-Maigret neulich meine Lösung war, um eine längere Autofahrt zu bestreiten. Es passte ziemlich gut zur Fahrzeit — und ist allerdings nach wie vor nur eines von vielleicht einem Dutzend Hörbüchern, die ich auf dem Blog vorstelle.

Ein Amateur auf Höhenflug

Ein interessanter junger Mann, dieser Dollent, der allerdings die eine oder andere Eigenheit mitbringt. Unter anderem die, dass er ständig etwas trinkt. Das Cover ist nicht umsonst gewählt. Schon in der ersten Geschichte probiert sich Dollent in Abwesenheit der Bewohner durch die Bar des Bauernhauses – wenn man schon mal im Haus ist, niemanden antrifft und das Nachdenken knifflig ist? Überraschenderweise hilft ihm das sogar bei den Ermittlungen.

Außerdem verguckt er sich wohl öfter in junge Frauen. So fällt ihm der zweite Kriminalfall vor die Füße, in Gestalt der „Dame in Hellblau“ im Casino. Sie fasziniert ihn und als sie den Abend mit einem Taschendiebstahl beendet, hilft er ihr aus der Situation. Interessanterweise ist sie kein bisschen dankbar dafür. Nun wird Dollent erst recht neugierig und versucht, mehr über sie herauszufinden.

Der dritte Fall beginnt mit einem Automechaniker, der morgens um 5 Uhr ein Auto betankt. Bei dessen Abfahrt ruft eine Frau aus dem Fond um Hilfe. Da der Mechaniker gelegentlich einen Schwips hat, nimmt die Gendarmerie seine Aussage nicht allzu ernst. Bis eine Leiche auftaucht allerdings. Dollent hat längst großen Spaß an der Ermittlungsarbeit gefunden und überlegt sich, wie er sich erneut erfolgreich beteiligen kann, als er von dem Vorfall erfährt.

„Entweder ist das ein Wichtigtuer oder ein außergewöhnlicher Mann“

Der kleine Frust mit dem Ruhm

Im letzten Fall lädt ihn ein Mann an die Côte d’Azur ein – auf Empfehlung eines Freundes, einem Staatsanwalt. Zwei Mal wöchentlich scheint jemand den Dachboden jenes Freundes zu durchwühlen. Die Polizei nimmt das Ganze nicht sehr ernst, zumal sie den ehemaligen Kolonialbeamten für etwas verschroben hält. Dollent jedoch kann dem mitgesandten Scheck nicht widerstehen und macht sich auf die Reise. Nur, um am Ende festzustellen, dass sich jemand seine Fähigkeiten für den falschen Zweck zunutze machen wollte (je nun, dass ist auch Sherlock Holmes schon passiert).

Georges Simenon scheibt in „Der Spürsinn des kleinen Doktors“ über einen gar nicht so spröden Ermittler. Abgesehen davon, dass Maigret der Profi ist und der Arzt ein Hobbyermittler, ist der Humor der größte Unterschied. Dollent schmuggelt sich zum Beispiel in aller Seelenruhe an einen Leichenfundort, tut, als ob er dazugehöre und wird vom Kommissar sogar zu den Angehörigen geschleppt. Was ihn obendrein sympathisch macht, ist ein Wesenszug, den er mit Maigret teilt: Ihn interessiert immer auch die menschliche Seite; ihn interessieren die menschlichen Nöte, die am Ende zur Tat führen. Und obendrein unterlaufen auch ihm gelegentlich Fehler. In einem Gespräch mit dem Kommissar stellen die beiden fest, dass die einen bessere Möglichkeiten haben, der andere aber dafür einen feinen Spürsinn für menschliche Irrungen.

Bibliografische Daten

Verlag: Audio-Verlag (Hörbuch)
gesprochen von Fabian Busch
ISBN: 978-3-7424-1505-9
Diese Veröffentlichung: 2020
Übersetzung: Julia Becker, Barbara Klau, Hansjürgen Wille

Der Band beinhaltet folgende Erzählungen:
– Die Konsultation ohne Doktor [Le flair du Petit Docteur]
– Die Dame in Hellblau [La demoiselle en bleu pâle]
– Eine Frau rief um Hilfe [Une femme a crié]
– Das Gespenst von Monsieur Marbe [Le fantômes de Monsieur Marbe]

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