Wie Nick Rennison in seiner detaillierten Biografie über Sherlock Holmes feststellt, hat der berühmte Detektiv in seiner Karriere erheblich mehr Fälle gelöst, als Watson jemals notiert hatte. Den „fehlenden“ Fällen haben sich im Lauf der Zeit immer wieder Menschen angenommen und füllen die Lücken auf. Manche Fälle lassen sich von denen des ersten Erzählers, Arthur Conan Doyle, wenig unterscheiden. Andere nutzen gewisse Freiheiten fantasievoll aus. Wenn die Lücken in Holmes‘ Lebenslauf nun mal existieren, wer könnte die Geschichten je widerlegen?
Sechs neue Fälle für Sherlock Holmes erzählt die Anthologie „Elementar, mein lieber Watson!“, zusammengestellt von Daniel Kampa. Sie sorgen dafür, dass die Miete für Baker Street Nr. 221 B weiterhin schön entrichtet wird.
Daniel Kampa hat zu Anthony Horowitz, Stephen King, Alan Bradley und Anne Perry gegriffen sowie den deutschen Holmes-Spezialisten Peter Jackob und Klaus-Peter Walter.
Langeweile ist ein Fremdwort
Die erste Geschichte könnte Bleisatz-Followern eventuell bekannt vorkommen: „Die drei Königinnen“ von Anthony Horowitz kam als kostenfreies eBooks heraus, als parallel der zweite Holmes-Roman erschien. Ob bereits bekannt ist oder nicht: Selbst ein zweiter Durchgang schadet nicht, habe ich festgestellt. Lestrade wird in der Baker Street vorstellig, weil ihm der Tod eines Einbrechers merkwürdig vorkommt. Watson und Holmes begleiten den Inspektor umgehend zum Tatort und können die Unklarheit in kurzer Zeit klären.
Sie bekommen es in „Der Fall des Doktors“ (Stephen King) anschließend mit dem Tod von Lord Hull zu tun, einem Tyrann und Despot. Ein Mensch, der seine ganze Energie daraus zieht, andere nach Strich und Faden zu demütigen. Fragt sich nur noch, wer hier nicht nur genug hatte, sondern auch genug Wut im Bauch, den Drangsalierungen ein Ende zu setzen.
Alan Bradleys Ermittlung braucht nur zwei Männer, die sich in einem Londoner Park auf der Bank über einen gerade erst geschehenen Mord austauschen („Verkleidung schadet nicht“). Sie kommen im Gespräch auf die zündende Idee. „Die Mitternachtsglocke“ (Anne Perry) wiederum führt Holmes und Watson aufs Land. Die junge Miss Bayliss hat Angst um ihren Vater und ist fest davon überzeugt, dass jemand aus ihrer Familie ein Mordkomplott gegen ihn angezettelt hat. Jetzt muss nur noch eine schlaue Ausrede her, warum die Londoner ausgerechnet am Weihnachtsabend auf dem Landgut der Familie Bayliss aufkreuzen müssen.
Moderne Fälle für Sherlock Holmes
„Das Geheimnis von Compton Lodge“ (Peter Jackob) füllt nicht nur eine Lücke in Holmes‘ reichhaltiger Liste gelöster Fälle. Die Story füllt auch eine Lücke in Watsons Vergangenheit. Offenbar war er schon einmal dort, kann sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern. Etwas irritiert mich an der Story – ich bekomme nur nicht ganz zu fassen, was es ist. Vielleicht kann ich mir bei Watson nur schwer eine dissoziative Amnesie vorstellen, also eine Erinnerungslücke aus Selbstschutz … wie stark Geschichten doch unser Bild einer literarischen Figur prägen können!
Phantastische Elemente bedient die letzte Geschichte, „Sherlock Holmes und der Arpaganthropos“ (Klaus-Peter Walter). Von solchen Schachzügen bin ich nur bedingt ein Fan. Freilich bekommt Holmes auch das mit der enstprechenden Recherche und besonderen Kenntnissen in den Griff. Phantastik dürfte ein Kennzeichen der Holmes-Stories von Walter sein, denn er verbindet in anderen Büchern Moriarty mit der Gottheit Cthulhu oder lässt Golems durch die Stadt spazieren. Möglicherweise ist diese Charakteristik aber für andere Leserinnen und Leser ein echter Tipp?
Ganz nebenbei macht Sherlock Holmes selbst Lust auf neue Fälle und dazu würde ich definitiv etwas lesen wollen:
„Es gibt da übrigens ein Cottage in St. Mary Mead, für das ich mich brennend interessiere.“
Bibliografische Angaben
Verlag: Kampa
herausgegeben von Daniel Kampa
ISBN: 978-3-311-12508-2
Erstveröffentlichung: 2020
Bestellen bei genialokal.de* / buchhaus.ch* / osiander.de* / orellfuessli.ch* / medimops.de* / amazon.de* (*Affiliate-Links)